Page - 2197 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Image of the Page - 2197 -
Text of the Page - 2197 -
brach dann ab und hielt eine aus einem langen Grashalm hergestellte Schlinge vor eine Felsritze,
aus der das bläulich schillernde Köpfchen einer Eidechse hervorsah. Hanold verließ den
Lacertenjäger mit der kritischen Idee, es sei kaum glaublich, was für närrisch merkwürdige
Vorhaben Leute zu der weiten Fahrt nach Pompeji veranlassen konnten, in welche Kritik er sich
und seine Absicht, in der Asche Pompejis nach den Fußabdrücken der Gradiva zu forschen,
natürlich nicht einschloß. Das Gesicht des Herrn kam ihm übrigens bekannt vor, als hätte er es
flüchtig in einem der beiden Gasthöfe bemerkt, auch war dessen Anrede wie an einen Bekannten
gerichtet gewesen. Auf seiner weiteren Wanderung brachte ihn ein Seitenweg zu einem bisher
von ihm nicht entdeckten Haus, welches sich als drittes Wirtshaus, der »Albergo del Sole«
herausstellte. Der unbeschäftigte Wirt benützte die Gelegenheit, sein Haus und die darin
enthaltenen ausgegrabenen Schätze bestens zu empfehlen. Er behauptete, daß er auch zugegen
gewesen sei, als man in der Gegend des Forums das junge Liebespaar aufgefunden, das sich bei
der Erkenntnis des unabwendbaren Unterganges fest mit den Armen umschlungen und so den
Tod erwartet habe. Davon hatte Hanold schon früher gehört und darüber als über eine
Fabelerfindung irgendeines phantasiereichen Erzählers die Achsel gezuckt, aber heute erweckten
die Reden des Wirtes bei ihm eine Gläubigkeit, die sich auch weiter erstreckte, als dieser eine mit
grüner Patina überzogene Metallspange herbeiholte, die in seiner Gegenwart neben den
Überresten des Mädchens aus der Asche gesammelt worden sei. Er erwarb diese Spange ohne
weitere kritische Bedenken, und als er beim Verlassen des Albergo an einem offenstehenden
Fenster einen mit weißen Blüten besetzten Asphodelosschaft herabnicken sah, durchdrang ihn der
Anblick der Gräberblume wie eine Beglaubigung für die Echtheit seines neuen Besitztums.
Mit dieser Spange hatte aber ein neuer Wahn von ihm Besitz ergriffen oder vielmehr der alte ein
Stückchen Fortsetzung getrieben, anscheinend kein gutes Vorzeichen für die eingeleitete
Therapie. Unweit des Forums hatte man ein junges Liebespaar in solcher Umschlingung
ausgegraben, und er hatte im Traume die Gradiva in eben dieser Gegend beim Apollotempel sich
zum Schlafe niederlegen gesehen. Wäre es nicht möglich, daß sie in Wirklichkeit vom Forum
noch weiter gegangen sei, um mit jemand zusammenzutreffen, mit dem sie dann gemeinsam
gestorben? Ein quälendes Gefühl, das wir vielleicht der Eifersucht gleichstellen können,
entsprang aus dieser Vermutung. Er beschwichtigte es durch den Hinweis auf die Unsicherheit
der Kombination und brachte sich wieder soweit zurecht, daß er die Abendmahlzeit im Hotel
Diomede einnehmen konnte. Zwei neueingetroffene Gäste, ein Er und eine Sie, die er nach einer
gewissen Ähnlichkeit für Geschwister halten mußte – trotz ihrer verschiedenen Haarfärbung –
zogen dort seine Aufmerksamkeit auf sich. Die beiden waren die ersten ihm auf seiner Reise
Begegnenden, von denen er einen sympathischen Eindruck empfing. Eine rote Sorrentiner Rose,
die das junge Mädchen trug, weckte irgendeine Erinnerung in ihm, er konnte sich nicht besinnen,
welche. Endlich ging er zu Bett und träumte; es war merkwürdig unsinniges Zeug, aber offenbar
aus den Erlebnissen des Tages zusammengebraut. »Irgendwo in der Sonne saß die Gradiva,
machte aus einem Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse drin zu fangen, und sagte dazu:
›Bitte, halte dich ganz ruhig – die Kollegin hat recht, das Mittel ist wirklich gut und sie hat es mit
bestem Erfolge angewendet.‹« Gegen diesen Traum wehrte er sich noch im Schlafe mit der
Kritik, das sei ja vollständige Verrücktheit, und es gelang ihm, den Traum loszuwerden mit Hilfe
eines unsichtbaren Vogels, der einen kurzen lachenden Ruf ausstieß und die Eidechse im
Schnabel forttrug.
Trotz all dieses Spuks erwachte er eher geklärt und gefestigt. Ein Rosenstrauch, der Blumen von
jener Art trug, wie er sie gestern an der Brust der jungen Dame bemerkt hatte, brachte ihm ins
Gedächtnis zurück, daß in der Nacht jemand gesagt hatte, im Frühling gäbe man Rosen. Er
2197
back to the
book Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)"
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin