Page - 2225 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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abgelegenen Lage und Entfernung vom Bahnhofe unbekannt geblieben war, um sich eine Flasche
kohlensauren Wassers gegen seinen Blutandrang geben zu lassen. Der Wirt benützt diese
Gelegenheit, um seine Antiquitäten anzupreisen, und zeigt ihm eine Spange, die angeblich jenem
pompejanischen Mädchen angehört hatte, das in der Nähe des Forums in inniger Umschlingung
mit seinem Geliebten aufgefunden wurde. Hanold, der diese oft wiederholte Erzählung bisher
niemals geglaubt, wird jetzt durch eine ihm unbekannte Macht genötigt, an die Wahrheit dieser
rührenden Geschichte und an die Echtheit des Fundstückes zu glauben, erwirbt die Fibula und
verläßt mit seinem Erwerb den Gasthof. Im Fortgehen sieht er an einem der Fenster einen in ein
Wasserglas gestellten, mit weißen Blüten behängten Asphodelosschaft herabnicken und
empfindet diesen Anblick als eine Beglaubigung der Echtheit seines neuen Besitztums. Die
wahnhafte Überzeugung durchdringt ihn jetzt, die grüne Spange habe der Gradiva angehört, und
sie sei das Mädchen gewesen, das in der Umarmung ihres Geliebten gestorben sei. Die quälende
Eifersucht, die ihn dabei erfaßt, beschwichtigt er durch den Vorsatz, sich am nächsten Tage bei
der Gradiva selbst durch das Vorzeigen der Spange Sicherheit wegen seines Argwohns zu holen.
Dies ist doch ein sonderbares Stück neuer Wahnbildung, und es sollte keine Spur im Traume der
nächstfolgenden Nacht darauf hinweisen!
Es wird uns wohl der Mühe wert sein, uns die Entstehung dieses Wahnzuwachses verständlich zu
machen, das neue Stück unbewußter Einsicht aufzusuchen, das sich durch das neue Stück Wahn
ersetzt. Der Wahn entsteht unter dem Einfluß des Wirtes vom Sonnenwirtshaus, gegen den sich
Hanold so merkwürdig leichtgläubig benimmt, als hätte er eine Suggestion von ihm empfangen.
Der Wirt zeigt ihm eine metallene Gewandfibel als echt und als Besitztum jenes Mädchens, das
in den Armen seines Geliebten verschüttet aufgefunden wurde, und Hanold, der kritisch genug
sein könnte, um die Wahrheit der Geschichte sowie die Echtheit der Spange zu bezweifeln, ist
sofort gläubig gefangen und erwirbt die mehr als zweifelhafte Antiquität. Es ist ganz
unverständlich, warum er sich so benehmen sollte, und es deutet nichts darauf, daß die
Persönlichkeit des Wirtes selbst uns dieses Rätsel lösen könnte. Es ist aber noch ein anderes
Rätsel in dem Vorfall, und zwei Rätsel lösen sich gern miteinander. Beim Verlassen des albergo
erblickt er einen Asphodelosschaft im Glase an einem Fenster und findet in ihm eine
Beglaubigung für die Echtheit der Metallspange. Wie kann das nur zugehen? Dieser letzte Zug ist
zum Glück der Lösung leicht zugänglich. Die weiße Blume ist wohl dieselbe, die er zu Mittag der
Gradiva geschenkt, und es ist ganz richtig, daß durch ihren Anblick an einem der Fenster dieses
Gasthofes etwas bekräftigt wird. Freilich nicht die Echtheit der Spange, aber etwas anderes, was
ihm schon bei der Entdeckung dieses bisher übersehenen albergo klar geworden. Er hatte bereits
am Vortage sich so benommen, als suchte er in den beiden Gasthöfen Pompejis, wo die Person
wohne, die ihm als Gradiva erscheine. Nun, da er so unvermuteterweise auf einen dritten stößt,
muß er sich im Unbewußten sagen: Also hier wohnt sie; und dann beim Weggehen: Richtig, da
ist ja die Asphodelosblume, die ich ihr gegeben; das ist also ihr Fenster. Dies wäre also die neue
Einsicht, die sich durch den Wahn ersetzt, die nicht bewußt werden kann, weil ihre
Voraussetzung, die Gradiva sei eine Lebende, eine von ihm einst gekannte Person, nicht bewußt
werden konnte.
Wie soll nun aber die Ersetzung der neuen Einsicht durch den Wahn vor sich gegangen sein? Ich
meine so, daß das Überzeugungsgefühl, welches der Einsicht anhaftete, sich behaupten konnte
und erhalten blieb, während für die bewußtseinsunfähige Einsicht selbst ein anderer, aber durch
Denkverbindung mit ihr verknüpfter Vorstellungsinhalt eintrat. So geriet nun das
Überzeugungsgefühl in Verbindung mit einem ihm eigentlich fremden Inhalt, und dieser letztere
gelangte als Wahn zu einer ihm selbst nicht gebührenden Anerkennung. Hanold überträgt seine
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin