Page - 2388 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Image of the Page - 2388 -
Text of the Page - 2388 -
1
Ich darf auch für meinen Teil sagen, daß ich am Inhalte der ›Vorläufigen Mitteilung‹ festhalten
kann; jedoch muß ich eingestehen, daß sich mir in den seither verflossenen Jahren – bei
unausgesetzter Beschäftigung mit den dort berührten Problemen – neue Gesichtspunkte
aufgedrängt haben, die eine wenigstens zum Teil andersartige Gruppierung und Auffassung des
damals bekannten Materiales an Tatsachen zur Folge hatten. Es wäre unrecht, wenn ich
versuchen wollte, meinem verehrten Freunde J. Breuer zuviel von der Verantwortlichkeit für
diese Entwicklung aufzubürden. Die folgenden Ausführungen bringe ich daher vorwiegend im
eigenen Namen.
Als ich versuchte, die Breuersche Methode der Heilung hysterischer Symptome durch
Ausforschung und Abreagieren in der Hypnose an einer größeren Reihe von Kranken zu
verwenden, stießen mir zwei Schwierigkeiten auf, in deren Verfolgung ich zu einer Abänderung
der Technik wie der Auffassung gelangte. (1) Es waren nicht alle Personen hypnotisierbar, die
unzweifelhaft hysterische Symptome zeigten und bei denen höchstwahrscheinlich derselbe
psychische Mechanismus obwaltete; (2) ich mußte Stellung zu der Frage nehmen, was denn
wesentlich die Hysterie charakterisiert und wodurch sich dieselbe gegen andere Neurosen
abgrenzt.
Ich verschiebe es auf später mitzuteilen, wie ich die erstere Schwierigkeit bewältigt und was ich
aus ihr gelernt habe. Ich gehe zunächst darauf ein, wie ich in der täglichen Praxis gegen das
zweite Problem Stellung nahm. Es ist sehr schwierig, einen Fall von Neurose richtig zu
durchschauen, ehe man ihn einer gründlichen Analyse unterzogen hat; einer Analyse, wie sie
eben nur bei Anwendung der Breuerschen Methode resultiert. Die Entscheidung über Diagnose
und Art der Therapie muß aber vor einer solchen gründlichen Kenntnis gefällt werden. Es blieb
mir also nichts übrig, als solche Fälle für die kathartische Methode auszuwählen, die man
vorläufig als Hysterie diagnostizieren konnte, die einzelne oder mehrere von den Stigmen oder
charakteristischen Symptomen der Hysterie erkennen ließen. Dann ereignete es sich manchmal,
daß die therapeutischen Ergebnisse trotz der Hysteriediagnose recht armselig ausfielen, daß selbst
die Analyse nichts Bedeutsames zutage förderte. Andere Male versuchte ich Neurosen mit der
Breuerschen Methode zu behandeln, die gewiß niemandem als Hysterie imponiert hätten, und ich
fand, daß sie auf diese Weise zu beeinflussen, ja selbst zu lösen waren. So ging es mir z. B. mit
den Zwangsvorstellungen, den echten Zwangsvorstellungen nach Westphalschem Muster, in
Fällen, die nicht durch einen Zug an Hysterie erinnerten. Somit konnte der psychische
Mechanismus, den die ›Vorläufige Mitteilung‹ aufgedeckt hatte, nicht für Hysterie
pathognomonisch sein; ich konnte mich auch nicht entschließen, diesem Mechanismus zuliebe
etwa soviel andere Neurosen in einen Topf mit der Hysterie zu werfen. Aus all den angeregten
Zweifeln riß mich endlich der Plan, alle anderen in Frage kommenden Neurosen ähnlich wie die
Hysterie zu behandeln, überall nach der Ätiologie und nach der Art des psychischen
Mechanismus zu forschen und die Entscheidung über die Berechtigung der Hysteriediagnose von
dem Ausfalle dieser Untersuchung abhängen zu lassen.
So gelangte ich, von der Breuerschen Methode ausgehend, dazu, mich mit der Ätiologie und dem
Mechanismus der Neurosen überhaupt zu beschäftigen. Ich hatte dann das Glück, in
verhältnismäßig kurzer Zeit bei brauchbaren Ergebnissen anzukommen. Es drängte sich mir
zunächst die Erkenntnis auf, daß, insofern man von einer Verursachung sprechen könne, durch
2388
back to the
book Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)"
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin