Page - 2424 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Meine Herren! Es sind ungefähr acht Jahre her, seitdem ich über Aufforderung Ihres betrauerten
Vorsitzenden Professor von Reder in Ihrem Kreise über das Thema der Hysterie sprechen durfte.
Ich hatte kurz zuvor (1895) in Gemeinschaft mit Doktor Josef Breuer die Studien über Hysterie
veröffentlicht und den Versuch unternommen, auf Grund der neuen Erkenntnis, welche wir
diesem Forscher verdanken, eine neuartige Behandlungsweise der Neurose einzuführen.
Erfreulicherweise darf ich sagen, haben die Bemühungen unserer Studien Erfolg gehabt; die in
ihnen vertretenen Ideen von der Wirkungsweise psychischer Traumen durch Zurückhaltung von
Affekt und die Auffassung der hysterischen Symptome als Erfolge einer aus dem Seelischen ins
Körperliche versetzten Erregung, Ideen, für welche wir die Termini »Abreagieren« und
»Konversion« geschaffen hatten, sind heute allgemein bekannt und verstanden. Es gibt –
wenigstens in deutschen Landen – keine Darstellung der Hysterie, die ihnen nicht bis zu einem
gewissen Grade Rechnung tragen würde, und keinen Fachgenossen, der nicht zum mindesten ein
Stück weit mit dieser Lehre ginge. Und doch mögen diese Sätze und diese Termini, solange sie
noch frisch waren, befremdend genug geklungen haben!
Ich kann nicht dasselbe von dem therapeutischen Verfahren sagen, das gleichzeitig mit unserer
Lehre den Fachgenossen vorgeschlagen wurde. Dasselbe kämpft noch heute um seine
Anerkennung. Man mag spezielle Gründe dafür anrufen. Die Technik des Verfahrens war damals
noch unausgebildet; ich vermochte es nicht, dem ärztlichen Leser des Buches jene Anweisungen
zu geben, welche ihn befähigt hätten, eine derartige Behandlung vollständig durchzuführen. Aber
gewiß wirken auch Gründe allgemeiner Natur mit. Vielen Ärzten erscheint noch heute die
Psychotherapie als ein Produkt des modernen Mystizismus und im Vergleiche mit unseren
physikalisch-chemischen Heilmitteln, deren Anwendung auf physiologische Einsichten
gegründet ist, als geradezu unwissenschaftlich, des Interesses eines Naturforschers unwürdig.
Gestatten Sie mir nun, vor Ihnen die Sache der Psychotherapie zu führen und hervorzuheben, was
an dieser Verurteilung als unrecht oder Irrtum bezeichnet werden kann.
Lassen Sie mich also fürs erste daran mahnen, daß die Psychotherapie kein modernes
Heilverfahren ist. Im Gegenteil, sie ist die älteste Therapie, deren sich die Medizin bedient hat. In
dem lehrreichen Werke von Löwenfeld (Lehrbuch der gesamten Psychotherapie) können Sie
nachlesen, welche die Methoden der primitiven und der antiken Medizin waren. Sie werden
dieselben zum größten Teil der Psychotherapie zuordnen müssen; man versetzte die Kranken
zum Zwecke der Heilung in den Zustand der »gläubigen Erwartung«, der uns heute noch das
nämliche leistet. Auch nachdem die Ärzte andere Heilmittel aufgefunden haben, sind
psychotherapeutische Bestrebungen der einen oder der anderen Art in der Medizin niemals
untergegangen.
Fürs zweite mache ich Sie darauf aufmerksam, daß wir Ärzte auf die Psychotherapie schon
darum nicht verzichten können, weil eine andere, beim Heilungsvorgang sehr in Betracht
kommende Partei – nämlich die Kranken – nicht die Absicht hat, auf sie zu verzichten. Sie
wissen, welche Aufklärungen wir hierüber der Schule von Nancy (Liébeault, Bernheim)
verdanken. Ein von der psychischen Disposition der Kranken abhängiger Faktor tritt, ohne daß
wir es beabsichtigen, zur Wirkung eines jeden vom Arzte eingeleiteten Heilverfahrens hinzu,
meist im begünstigenden, oft auch im hemmenden Sinne. Wir haben für diese Tatsache das Wort
»Suggestion« anzuwenden gelernt, und Moebius hat uns gelehrt, daß die Unverläßlichkeit, die
wir an so manchen unserer Heilmethoden beklagen, gerade auf die störende Einwirkung dieses
übermächtigen Moments zurückzuführen ist. Wir Ärzte, Sie alle, treiben also beständig
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin