Page - 2484 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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ihm bereitliegenden Gegenübertragung. Er muß erkennen, daß das Verlieben der Patientin durch
die analytische Situation erzwungen wird und nicht etwa den Vorzügen seiner Person
zugeschrieben werden kann, daß er also gar keinen Grund hat, auf eine solche »Eroberung«, wie
man sie außerhalb der Analyse heißen würde, stolz zu sein. Und es ist immer gut, daran gemahnt
zu werden. Für die Patientin ergibt sich aber eine Alternative: entweder sie muß auf eine
psychoanalytische Behandlung verzichten, oder sie muß sich die Verliebtheit in den Arzt als
unausweichliches Schicksal gefallen lassen[19].
Ich zweifle nicht daran, daß sich die Angehörigen der Patientin mit ebensolcher Entschiedenheit
für die erste der beiden Möglichkeiten erklären werden wie der analysierende Arzt für die zweite.
Aber ich meine, es ist dies ein Fall, in welchem der zärtlichen – oder vielmehr egoistisch
eifersüchtigen – Sorge der Angehörigen die Entscheidung nicht überlassen werden kann. Nur das
Interesse der Kranken sollte den Ausschlag geben. Die Liebe der Angehörigen kann aber keine
Neurose heilen. Der Psychoanalytiker braucht sich nicht aufzudrängen, er darf sich aber als
unentbehrlich für gewisse Leistungen hinstellen. Wer als Angehöriger die Stellung Tolstois zu
diesem Probleme zu der seinigen macht, mag im ungestörten Besitze seiner Frau oder Tochter
bleiben und muß es zu ertragen suchen, daß diese auch ihre Neurose und die mit ihr verknüpfte
Störung ihrer Liebesfähigkeit beibehält. Es ist schließlich ein ähnlicher Fall wie der der
gynäkologischen Behandlung. Der eifersüchtige Vater oder Gatte irrt übrigens groß, wenn er
meint, die Patientin werde der Verliebtheit in den Arzt entgehen, wenn er sie zur Bekämpfung
ihrer Neurose eine andere als die analytische Behandlung einschlagen läßt. Der Unterschied wird
vielmehr nur sein, daß eine solche Verliebtheit, die dazu bestimmt ist, unausgesprochen und
unanalysiert zu bleiben, niemals jenen Beitrag zur Herstellung der Kranken leisten wird, den ihr
die Analyse abzwingen würde.
Es ist mir bekanntgeworden, daß einzelne Ärzte, welche die Analyse ausüben, die Patienten
häufig auf das Erscheinen der Liebesübertragung vorbereiten oder sie sogar auffordern, sich »nur
in den Arzt zu verlieben, damit die Analyse vorwärtsgehe«. Ich kann mir nicht leicht eine
unsinnigere Technik vorstellen. Man raubt damit dem Phänomen den überzeugenden Charakter
der Spontaneität und bereitet sich selbst schwer zu beseitigende Hindernisse.
Zunächst hat es allerdings nicht den Anschein, als ob aus der Verliebtheit in der Übertragung
etwas für die Kur Förderliches entstehen könnte. Die Patientin, auch die bisher fügsamste, hat
plötzlich Verständnis und Interesse für die Behandlung verloren, will von nichts anderem
sprechen und hören als von ihrer Liebe, für die sie Entgegnung fordert; sie hat ihre Symptome
aufgegeben oder vernachlässigt sie, ja, sie erklärt sich für gesund. Es gibt einen völligen Wechsel
der Szene, wie wenn ein Spiel durch eine plötzlich hereinbrechende Wirklichkeit abgelöst würde,
etwa wie wenn sich während einer Theatervorstellung Feuerlärm erhebt. Wer dies als Arzt zum
erstenmal erlebt, hat es nicht leicht, die analytische Situation festzuhalten und sich der Täuschung
zu entziehen, daß die Behandlung wirklich zu Ende sei.
Mit etwas Besinnung findet man sich dann zurecht. Vor allem gedenkt man des Verdachtes, daß
alles, was die Fortsetzung der Kur stört, eine Widerstandsäußerung sein mag. An dem Auftreten
der stürmischen Liebesforderung hat der Widerstand unzweifelhaft einen großen Anteil. Man
hatte ja die Anzeichen einer zärtlichen Übertragung bei der Patientin längst bemerkt und durfte
ihre Gefügigkeit, ihr Eingehen auf die Erklärungen der Analyse, ihr ausgezeichnetes Verständnis
und die hohe Intelligenz, die sie dabei erwies, gewiß auf Rechnung einer solchen Einstellung
gegen den Arzt schreiben. Nun ist das alles wie weggefegt, die Kranke ist ganz einsichtslos
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin