Page - 2486 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Image of the Page - 2486 -
Text of the Page - 2486 -
Ebensowenig kann ich zu einem Mittelwege raten, der sich manchen als besonders klug
empfehlen würde, welcher darin besteht, daß man die zärtlichen Gefühle der Patientin zu
erwidern behauptet und dabei allen körperlichen Betätigungen dieser Zärtlichkeit ausweicht, bis
man das Verhältnis in ruhigere Bahnen lenken und auf eine höhere Stufe heben kann. Ich habe
gegen dieses Auskunftsmittel einzuwenden, daß die psychoanalytische Behandlung auf
Wahrhaftigkeit aufgebaut ist. Darin liegt ein gutes Stück ihrer erziehlichen Wirkung und ihres
ethischen Wertes. Es ist gefährlich, dieses Fundament zu verlassen. Wer sich in die analytische
Technik eingelebt hat, trifft das dem Arzte sonst unentbehrliche Lügen und Vorspiegeln
überhaupt nicht mehr und pflegt sich zu verraten, wenn er es in bester Absicht einmal versucht.
Da man vom Patienten strengste Wahrhaftigkeit fordert, setzt man seine ganze Autorität aufs
Spiel, wenn man sich selbst von ihm bei einer Abweichung von der Wahrheit ertappen läßt.
Außerdem ist der Versuch, sich in zärtliche Gefühle gegen die Patientin gleiten zu lassen, nicht
ganz ungefährlich. Man beherrscht sich nicht so gut, daß man nicht plötzlich einmal weiter
gekommen wäre, als man beabsichtigt hatte. Ich meine also, man darf die Indifferenz, die man
sich durch die Niederhaltung der Gegenübertragung erworben hat, nicht verleugnen.
Ich habe auch bereits erraten lassen, daß die analytische Technik es dem Arzte zum Gebote
macht, der liebesbedürftigen Patientin die verlangte Befriedigung zu versagen. Die Kur muß in
der Abstinenz durchgeführt werden; ich meine dabei nicht allein die körperliche Entbehrung,
auch nicht die Entbehrung von allem, was man begehrt, denn dies würde vielleicht kein Kranker
vertragen. Sondern ich will den Grundsatz aufstellen, daß man Bedürfnis und Sehnsucht als zur
Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kranken bestehen lassen und sich hüten muß,
dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen. Anderes als Surrogate könnte man ja nicht bieten,
da die Kranke infolge ihres Zustandes, solange ihre Verdrängungen nicht behoben sind, einer
wirklichen Befriedigung nicht fähig ist.
Gestehen wir zu, daß der Grundsatz, die analytische Kur solle in der Entbehrung durchgeführt
werden, weit über den hier betrachteten Einzelfall hinausreicht und einer eingehenden Diskussion
bedarf, durch welche die Grenzen seiner Durchführbarkeit abgesteckt werden sollen. Wir wollen
es aber vermeiden, dies hier zu tun, und uns möglichst enge an die Situation halten, von der wir
ausgegangen sind. Was würde geschehen, wenn der Arzt anders vorginge und die etwa
beiderseits gegebene Freiheit ausnützen würde, um die Liebe der Patientin zu erwidern und ihr
Bedürfnis nach Zärtlichkeit zu stillen?
Wenn ihn dabei die Berechnung leiten sollte, durch solches Entgegenkommen würde er sich die
Herrschaft über die Patientin sichern und sie so bewegen, die Aufgaben der Kur zu lösen, also
ihre dauernde Befreiung von der Neurose zu erwerben, so müßte ihm die Erfahrung zeigen, daß
er sich verrechnet hat. Die Patientin würde ihr Ziel erreichen, er niemals das seinige. Es hätte sich
zwischen Arzt und Patientin nur wieder abgespielt, was eine lustige Geschichte vom Pastor und
vom Versicherungsagenten erzählt. Zu dem ungläubigen und schwerkranken
Versicherungsagenten wird auf Betreiben der Angehörigen ein frommer Mann gebracht, der ihn
vor seinem Tode bekehren soll. Die Unterhaltung dauert so lange, daß die Wartenden Hoffnung
schöpfen. Endlich öffnet sich die Tür des Krankenzimmers. Der Ungläubige ist nicht bekehrt
worden, aber der Pastor geht versichert weg.
Es wäre ein großer Triumph für die Patientin, wenn ihre Liebeswerbung Erwiderung fände, und
eine volle Niederlage für die Kur. Die Kranke hätte erreicht, wonach alle Kranken in der Analyse
streben, etwas zu agieren, im Leben zu wiederholen, was sie nur erinnern, als psychisches
2486
back to the
book Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)"
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin