Page - 2585 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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V
Wir sind von der Frage ausgegangen, wie man die beschwerlich lange Dauer einer analytischen
Behandlung abkürzen kann, und sind dann, immer noch vom Interesse für zeitliche Verhältnisse
geleitet, zur Untersuchung fortgeschritten, ob man Dauerheilung erzielen oder gar durch
vorbeugende Behandlung zukünftige Erkrankung fernhalten kann. Wir haben dabei als
maßgebend für den Erfolg unserer therapeutischen Bemühung erkannt die Einflüsse der
traumatischen Ätiologie, die relative Stärke der zu beherrschenden Triebe und etwas, was wir die
Ichveränderung nannten. Nur bei dem zweiten dieser Momente haben wir ausführlicher verweilt,
hatten dabei Anlaß, die überragende Wichtigkeit des quantitativen Faktors anzuerkennen und das
Anrecht der metapsychologischen Betrachtungsweise bei jedem Erklärungsversuch zu betonen.
Über das dritte Moment, das der Ichveränderung, haben wir noch nichts geäußert. Wenden wir
uns ihm zu, so empfangen wir den ersten Eindruck, daß hier viel zu fragen und zu beantworten ist
und daß, was wir dazu zu sagen haben, sich als sehr unzureichend erweisen wird. Dieser erste
Eindruck hält auch bei weiterer Beschäftigung mit dem Problem stand. Die analytische Situation
besteht bekanntlich darin, daß wir uns mit dem Ich der Objektperson verbünden, um
unbeherrschte Anteile ihres Es zu unterwerfen, also sie in die Synthese des Ichs einzubeziehen.
Die Tatsache, daß ein solches Zusammenarbeiten beim Psychotiker regelmäßig mißlingt, leiht
unserem Urteil einen ersten festen Punkt. Das Ich, mit dem wir einen solchen Pakt schließen
können, muß ein normales Ich sein. Aber ein solches Normal-Ich ist, wie die Normalität
überhaupt, eine Idealfiktion. Das abnorme, für unsere Absichten unbrauchbare Ich ist leider
keine. Jeder Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des
Psychotikers in dem oder jenem Stück, in größerem oder geringerem Ausmaß, und der Betrag der
Entfernung von dem einen und der Annäherung an das andere Ende der Reihe wird uns vorläufig
ein Maß für die so unbestimmt gekennzeichnete »Ichveränderung« sein.
Fragen wir, woher die so mannigfaltigen Arten und Grade der Ichveränderung rühren mögen, so
ist die nächste unvermeidliche Alternative, sie sind entweder ursprünglich oder erworben. Der
zweite Fall wird leichter zu behandeln sein. Wenn erworben, dann gewiß im Laufe der
Entwicklung von den ersten Lebenszeiten an. Von allem Anfang an muß ja das Ich seine Aufgabe
zu erfüllen suchen, zwischen seinem Es und der Außenwelt im Dienste des Lustprinzips
vermitteln, das Es gegen die Gefahren der Außenwelt behüten. Wenn es im Laufe dieser
Bemühung lernt, sich auch gegen das eigene Es defensiv einzustellen und dessen Triebansprüche
wie äußere Gefahren zu behandeln, so geschieht dies wenigstens zum Teil darum, weil es
versteht, daß die Triebbefriedigung zu Konflikten mit der Außenwelt führen würde. Das Ich
gewöhnt sich dann unter dem Einfluß der Erziehung, den Schauplatz des Kampfes von außen
nach innen zu verlegen, die innere Gefahr zu bewältigen, ehe sie zur äußeren geworden ist, und
tut wahrscheinlich zumeist gut daran. Während dieses Kampfes auf zwei Fronten – später wird
eine dritte Front hinzukommen – bedient sich das Ich verschiedener Verfahren, um seiner
Aufgabe zu genügen, allgemein ausgedrückt, um Gefahr, Angst, Unlust zu vermeiden. Wir
nennen diese Verfahren »Abwehrmechanismen«. Sie sind uns noch nicht erschöpfend genug
bekannt. Das Buch von Anna Freud hat uns einen ersten Einblick in ihre Mannigfaltigkeit und
vielseitige Bedeutung gestattet[30].
Von einem dieser Mechanismen, von der Verdrängung, hat das Studium der neurotischen
Vorgänge überhaupt seinen Ausgang genommen. Es war nie ein Zweifel daran, daß die
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin