Page - 2682 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Image of the Page - 2682 -
Text of the Page - 2682 -
ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges
Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine im Grunde chemische Anziehung zu
unterlegen ist. Die Entscheidung über das endgültige Sexualverhalten fällt erst nach der Pubertät
und ist das Ergebnis einer noch nicht übersehbaren Reihe von Faktoren, die teils konstitutioneller,
teils aber akzidenteller Natur sind. Gewiß können einzelne dieser Faktoren so übergroß ausfallen,
daß sie das Resultat in ihrem Sinne beeinflussen. Im allgemeinen aber wird die Vielheit der
bestimmenden Momente durch die Mannigfaltigkeit der Ausgänge im manifesten
Sexualverhalten der Menschen gespiegelt. Bei den Inversionstypen ist durchwegs das
Vorherrschen archaischer Konstitutionen und primitiver psychischer Mechanismen zu bestätigen.
Die Geltung der narzißtischen Objektwahl und die Festhaltung der erotischen Bedeutung der
Analzone erscheinen als deren wesentlichste Charaktere. Man gewinnt aber nichts, wenn man auf
Grund solcher konstitutioneller Eigenheiten die extremsten Inversionstypen von den anderen
sondert. Was sich bei diesen als anscheinend zureichende Begründung findet, läßt sich ebenso,
nur in geringerer Stärke, in der Konstitution von Übergangstypen und bei manifest Normalen
nachweisen. Die Unterschiede in den Ergebnissen mögen qualitativer Natur sein: die Analyse
zeigt, daß die Unterschiede in den Bedingungen nur quantitative sind. Unter den akzidentellen
Beeinflussungen der Objektwahl haben wir die Versagung (die frühzeitige
Sexualeinschüchterung) bemerkenswert gefunden und sind auch darauf aufmerksam geworden,
daß das Vorhandensein beider Elternteile eine wichtige Rolle spielt. Der Wegfall eines starken
Vaters in der Kindheit begünstigt nicht selten die Inversion. Man darf endlich die Forderung
aufstellen, daß die Inversion des Sexualobjektes von der Mischung der Geschlechtscharaktere im
Subjekt begrifflich strenge zu sondern ist. Ein gewisses Maß von Unabhängigkeit ist auch in
dieser Relation unverkennbar.
Eine Reihe bedeutsamer Gesichtspunkte zur Frage der Inversion hat Ferenczi (1914) vorgebracht.
Ferenczi rügt mit Recht, daß man unter dem Namen »Homosexualität«, den er durch den
besseren »Homoerotik« ersetzen will, eine Anzahl von sehr verschiedenen, in organischer wie in
psychischer Hinsicht ungleichwertigen Zuständen zusammenwirft, weil sie das Symptom der
Inversion gemeinsam haben. Er fordert scharfe Unterscheidung wenigstens zwischen den beiden
Typen des Subjekthomoerotikers, der sich als Weib fühlt und benimmt, und des
Objekthomoerotikers, der durchaus männlich ist und nur das weibliche Objekt gegen ein
gleichgeschlechtliches vertauscht hat. Den ersteren anerkennt er als richtige »sexuelle
Zwischenstufe« im Sinne von Magnus Hirschfeld, den zweiten bezeichnet er – minder glücklich
– als Zwangsneurotiker. Das Sträuben gegen die Inversionsneigung sowie die Möglichkeit
psychischer Beeinflussung kämen nur beim Objekthomoerotiker in Betracht. Auch nach
Anerkennung dieser beiden Typen darf man hinzufügen, daß bei vielen Personen ein Maß von
Subjekthomoerotik mit einem Anteil von Objekthomoerotik vermengt gefunden wird.
In den letzten Jahren haben Arbeiten von Biologen, in erster Linie die von Eugen Steinach, ein
helles Licht auf die organischen Bedingungen der Homoerotik sowie der Geschlechtscharaktere
überhaupt geworfen.
Durch das experimentelle Verfahren der Kastration mit nachfolgender Einpflanzung von
Keimdrüsen des anderen Geschlechtes gelang es, bei verschiedenen Säugetierarten Männchen in
Weibchen zu verwandeln und umgekehrt. Die Verwandlung betraf mehr oder minder vollständig
die somatischen Geschlechtscharaktere und das psychosexuelle Verhalten (also Subjekt- und
Objekterotik). Als Träger dieser geschlechtsbestimmenden Kraft wird nicht der Anteil der
Keimdrüse betrachtet, welcher die Geschlechtszellen bildet, sondern das sogenannte interstitielle
2682
back to the
book Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)"
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin