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[80] Ein ganz typisches Beispiel für Entstehung von Symptomen aus Anlässen, die anscheinend
mit dem Sexuellen nichts zu tun haben.
[81] Ich habe schon angedeutet, daß die meisten hysterischen Symptome, wenn sie ihre volle
Ausbildung erlangt haben, eine phantasierte Situation des Sexuallebens darstellen, also eine
Szene des sexuellen Verkehres, eine Schwangerschaft, Entbindung, Wochenbett u.
dgl.
[82] Die Deflorationsphantasie findet also ihre Anwendung auf Herrn K., und es wird klar,
warum dieselbe Region des Trauminhalts Material aus der Szene am See enthält. (Ablehnung,
2½ Stunden, der Wald, Einladung nach L.)
[83] Einige Nachträge zu den bisherigen Deutungen: Die »Madonna«: ist offenbar sie selbst,
erstens wegen des »Anbeters«, der ihr die Bilder geschickt hat, dann weil sie Herrn K.s Liebe vor
allem durch ihre Mütterlichkeit gegen seine Kinder gewonnen hatte, und endlich, weil sie als
Mädchen doch schon ein Kind gehabt hat, im direkten Hinweise auf die Entbindungsphantasie.
Die »Madonna« ist übrigens eine beliebte Gegenvorstellung, wenn ein Mädchen unter dem
Drucke sexueller Beschuldigungen steht, was ja auch bei Dora zutrifft. Ich bekam von diesem
Zusammenhange die erste Ahnung als Arzt der psychiatrischen Klinik bei einem Falle von
halluzinatorischer Verworrenheit raschen Ablaufes, der sich als Reaktion auf einen Vorwurf des
Bräutigams herausstellte.
Die mütterliche Sehnsucht nach einem Kinde wäre bei Fortsetzung der Analyse wahrscheinlich
als dunkles aber mächtiges Motiv ihres Handelns aufzudecken gewesen. – Die vielen Fragen, die
sie in letzter Zeit aufgeworfen hatte, erscheinen wie Spätabkömmlinge der Fragen sexueller
Wißbegierde, welche sie aus dem Lexikon zu befriedigen gesucht. Es ist anzunehmen, daß sie
über Schwangerschaft, Entbindung, Jungfräulichkeit und ähnliche Themata nachgelesen. – Eine
der Fragen, die in den Zusammenhang der zweiten Traumsituation einzufügen sind, hatte sie bei
der Reproduktion des Traumes vergessen. Es konnte nur die Frage sein: Wohnt hier der
Herr ***? oder: Wo wohnt der Herr ***? Es muß seinen Grund haben, daß sie diese scheinbar
harmlose Frage vergessen, nachdem sie sie überhaupt in den Traum aufgenommen. Ich finde
diesen Grund in dem Familiennamen selbst, der gleichzeitig Gegenstandsbedeutung hat, und
zwar mehrfache, also einem »zweideutigen« Worte gleichgesetzt werden kann. Ich kann diesen
Namen leider nicht mitteilen, um zu zeigen, wie geschickt er verwendet worden ist, um
»Zweideutiges« und »Unanständiges« zu bezeichnen. Es stützt diese Deutung, wenn wir in
anderer Region des Traumes, wo das Material aus den Erinnerungen an den Tod der Tante
stammt, in dem Satze »Sie sind schon auf den Friedhof gefahren« gleichfalls eine
Wortanspielung auf den Namen der Tante finden. In diesen unanständigen Worten wäre wohl der
Hinweis auf eine zweite mündliche Quelle gelegen, da für sie das Wörterbuch nicht ausreicht. Ich
wäre nicht erstaunt gewesen zu hören, daß Frau K. selbst, die Verleumderin, diese Quelle war.
Dora hätte dann gerade sie edelmütig verschont, während sie die anderen Personen mit nahezu
tückischer Rache verfolgte; hinter der schier unübersehbaren Reihe von Verschiebungen, die sich
so ergeben, könnte man ein einfaches Moment, die tief wurzelnde homosexuelle Liebe zu Frau
K., vermuten.
[84] Es war der 31. Dezember.
[85] Es war vielleicht nicht gleichgültig, daß sie dieselbe Klage über die Frau, deren Bedeutung
sie wohl verstand, auch vom Vater gehört haben konnte, wie ich sie aus seinem Munde gehört
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin