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das US-Cyberkommando die Internetverbindung einer russischen Trollfabrik. Es
schleuste als Vergeltungsmaßnahme auch Schadprogramme in russische Energiever-
sorgungsnetze ein (→ Sanger/Perlroth 2019). Solche Aktionen sind im Kontext der
organisatorischen Aufwertung des Cyberkommandos zu betrachten, das seit Mai 2018
als eigenständiges Unified Combatant Command fungiert. Ebenfalls seit 2018 ist das
US-Militär nicht mehr gezwungen, offensive Cyberoperationen vom Weißen Haus
autorisieren zu lassen und mit anderen Ressorts, etwa dem State Department, abzu-
stimmen.
Kritiker bemängeln, dass das Konzept der Abschreckung im Cyberraum untauglich
und riskant ist. Der Glaube an die Überlegenheit der Offensive, die dem Präemptivge-
danken zugrunde liegt, ist nicht durch empirische Fakten belegt (→ Valeriano/Jensen
2019). Dessen ungeachtet zeichnet sich ab, dass einige Cybermächte und Bündnisse
dem Beispiel der USA folgen und zunehmend offensive Gegenmaßnahmen androhen:
So sprach der britische Außenminister im März 2019 über diverse Vergeltungsmaß-
nahmen für Cyberattacken, wozu auch Cybergegenschläge gehören könnten. Bereits
2014 kamen die NATO-Mitglieder überein, dass schwerwiegende Cyberattacken
prinzipiell den Bündnisfall auslösen können. Ende 2017 traf die NATO eine Grund-
satzentscheidung, die die Androhung offensiver Cybergegenschläge als Teil ihrer
Abschreckungsstrategie beinhaltet. Allerdings hat das 2018 gegründete NATO Cyber
Operations Center nur koordinierende Funktion. Die Entwicklung und der Einsatz
offensiver Kapazitäten verbleiben unter der Kontrolle der Mitgliedsstaaten.
Während russische Militärs und Sicherheitsexperten dem Konzept der Abschreckung
im Cyberspace skeptisch gegenüberstehen, wandelt sich die politische Praxis: Russi-
sche Vertreter drohen zunehmend explizit mit Vergeltungsmaßnahmen für Cyberatta-
cken (→ Meakins 2018). Auch in China kündigt sich ein Kurswechsel an. Es gewinnen
jene Stimmen an Einfluss, die sich für eine chinesische Cyberabschreckung stark
machen, um auf die doktrinäre Verschärfung in den USA zu reagieren (→ Jiang 2019:
13-15). Gerade die Entwicklung in China und Russland deutet darauf hin, dass die
Logik des Sicherheitsdilemmas immer stärker die Politik bestimmt. Die Folge ist ein
absehbarer Rüstungswettlauf im Cyberraum. Noch fataler: Es ist davon auszugehen,
dass Aktionen der Vorwärtsverteidigung im Krisenfall als Angriffsvorbereitungen
fehlgedeutet und mit präemptiven Attacken beantwortet werden. Das Resultat könnte
sein, dass Konfliktparteien die Kontrolle über die Eskalation verlieren.
Deutschland war bislang keine treibende Kraft dieser Entwicklung. Seit der schweren
Cyberattacke auf den Bundestag 2015 zeichnet sich jedoch ein Richtungswechsel hin
zu einer aktiven Verteidigung ab, und es wird über staatliche Hackback-Operationen
diskutiert. Diese könnte das im April 2017 eingesetzte Bundeswehrkommando Cyber-
und Informationsraum (KdoCIR) ausführen. Der gesamte Organisationsraum, dem Gefahr eines Rüs-
tungswettlaufs im
Cyberraum
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108 2020 / Zwischen Cyberfrieden und Cyberkrieg / RÜSTUNGSDYNAMIKEN
Friedensgutachten 2020
Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Title
- Friedensgutachten 2020
- Subtitle
- Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5381-0
- Size
- 21.0 x 28.5 cm
- Pages
- 162
- Keywords
- Frieden, Bewaffnete Konflikte, Sicherheit, Internationale Politik, Entwicklungszusammenarbeit, Krieg, Gewalt, Politik, Konfliktforschung, Globalisierung, Politikwissenschaft
- Category
- Recht und Politik