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31 völlig unvoreingenommen und zugleich mit möglichst groĂem theoretischem
Vorwissen die Daten zu erforschen â auf jeweils zwei Forscher_innen zu ver-
teilen? Aber selbst dann könnte nicht nachvollziehbar gemacht werden, wann
und wie die Interaktion zwischen den beiden passieren darf, damit weder die
Theorie-freie, noch die Theorie-verbundene Person das Emergieren von Theorie
stört. Verfolgt man die weitere Entwicklung der theoretischen Ăberlegungen
von Glaser und Strauss, wird offensichtlich, dass sich aufgrund des Postulats
der apriorischen Theoriefreiheit im Laufe der Zeit zentrale Unterschiede zwi-
schen den beiden ergeben (StrĂŒbing 2011). Barney Glaser bleibt eher dem
Induktionsprinzip und damit der Ăberzeugung verhaftet, dass apriorische
Theoriefreiheit erreicht werden könne:
âTo undertake an extensive review of literature before the emergence of
a core category violates the basic premise of GT â that being, the theory
emerges from the data not from extant theory. [âŠ] The prestudy litera-
ture review of QDA [Qualitative Data Analysis] is a waste of time and a
derailing of relevance for the GT Study.â (Glaser/Holton 2004: Abs. 46)
Anselm Strauss und Juliet Corbin schlagen hingegen einen weniger orthodoxen
Weg ein, indem sie in diesem Zusammenhang das Konzept der theoretischen
SensibilitĂ€t in den Vordergrund rĂŒcken. Ihrer Auffassung nach können viel-
fĂ€ltige Medien als Quellen der Erfahrung âim wissenschaftlichen, professio-
nellen oder auch persönlichen Bereich â dienen: âLiteratur kann in diesem
Zusammenhang theoretische SensibilitĂ€t anregen, Hinweise fĂŒr das Theoretical
Sampling geben, der âValidierungâ der (Zwischen-)Ergebnisse dienen usw.â
(Mey/Mruck 2011: 31). Ich folge in der vorliegenden Forschungsarbeit weniger
dem Postulat der apriorischen Theoriefreiheit als der Idee der theoretischen
SensibilitĂ€t und reflektierten Offenheit. Es geht dabei darum, ein GespĂŒr fĂŒr
die eigene WahrnehmungsfÀhigkeit zu entwickeln. Dazu gehört auch das
Bewusstsein, dass wir immer an ein VorverstĂ€ndnis anschlieĂen â und dieses
gilt es offenzulegen (Breuer 2010).
1.3.2 KONSTRUKTIVISTISCHE UND REFLEXIVE GROUNDED THEORY
âWas tun wir eigentlich, wenn wir forschen?â, fragt Franz Breuer zu Beginn
seines Impulses in einem der inter- und transdisziplinÀren WerkstattgesprÀ-
che8 und gibt selbst eine Antwort aus Perspektive der Grounded Theory mit
einem Zitat von Anselm Strauss: â[D]em Ansatz der Grounded Theory [liegt]
die Annahme zugrunde, daĂ Forschung als Arbeit zu verstehen istâ. (Strauss
1998: 34). Anselm Strauss hatte sich als Handlungstheoretiker grundsÀtzlich
viel mit dem soziologischen Begriff der Arbeit befasst (Legewie/Schwervier-
Legewie 2004). Der selbstreflexive Gehalt, den diese Sichtweise in sich birgt,
lÀsst sich nachvollziehen, wenn die Konsequenzen betrachtet werden, die die
8 Im Rahmen der inter- und transdisziplinÀren WerkstattgesprÀche am Methodenzentrum
der Leuphana in LĂŒneburg fanden zwischen 2014 und 2016 regelmĂ€Ăig offene GesprĂ€chsrunden zu
relevanten Themen im Bereich ĂŒberfachlicher Methodenlehre statt.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, SituationalitÀt, ReflexivitÀt
- Category
- Medien