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ich so noch nicht erfahren hatte. Warum war mir Martha nicht vorgestellt
worden? Warum saĂ sie nicht mit uns am Tisch? Warum sollte ich ihr nicht
die Hand geben? FĂŒr mich war neu, dass Ausgrenzung so nah, innerhalb der
eigenen vier WĂ€nde, mitten im Zuhause einer Familie stattfand. Weder begriff
ich das Regelwerk des Apartheidsystems, dem die Vorgaben zum Umgang
mit schwarzen Bediensteten in dieser Situation wohl entstammten, noch war
ich in der Lage, es zu hinterfragen bzw. es zu unterlaufen.
2.1.4 IN LAHORE
Einige Jahre spĂ€ter fĂŒhrte mich eine Reise nach Pakistan. In Lahore lernte ich
Ghulam kennen. Er nahm mich, meinen Freund Erik und unseren Kollegen
Kurt wÀhrend unseres ersten ipsum-Projektes in seinem Haus auf. Ich entsprach
ganz und gar nicht dem Frauenbild, das er gewohnt war. Er band uns dennoch
in sein soziales Umfeld ein. Wenn wir nicht gerade arbeiteten, hatten wir
groĂen Anteil an seinem Leben. Wir verbrachten lange NĂ€chte mit ihm an sei-
nem StraĂenstand, an manchen Tagen zeigte er uns seine LieblingsplĂ€tze in
der Stadt, mit ihm konnten wir viel entdecken, gemeinsam lachen, diskutieren,
auch streiten. FrĂŒher einmal, so erzĂ€hlte er, habe er in Afghanistan gegen die
Russen gekÀmpft. Zu dieser Zeit sei sein Leben vom Kampf und vom Training
fĂŒr eine Sache geprĂ€gt gewesen, die er âBefreiungâ nannte. SpĂ€ter habe er sich
entschieden, ein Leben zu fĂŒhren, wie es einem guten Muslim entspreche â
regelmĂ€Ăiger Besuch in der Moschee, fĂŒnf Gebete am Tag, Almosen fĂŒr die
Armen, pilgern und fasten.
Nach einer Woche in seinem Haus nahm er mich zur Seite, um mir zu
erklÀren, dass ich ab sofort keine Fremde mehr sei. Es wÀre nicht passend,
eine fremde Frau zu beherbergen, und er habe sich fĂŒr dieses Problem schon
etwas ĂŒberlegt: Ab sofort sei ich seine Schwester. Ich war damit einverstanden
und machte auch gerne regelmĂ€Ăige Pflichtbesuche bei den Frauen der Familie.
Ich hatte nun die Verpflichtung, nicht nur Gast zu sein, sondern ein wenig
mehr. Die regelmĂ€Ăigen Besuche bei meinen Leihschwestern und meiner
Leihmutter gaben mir neue Einblicke in das hÀusliche Leben, waren doch die
RĂ€ume der Frauen getrennt von den offenen RĂ€umen, die Ghulam bewohnte.
Wenn ich an das groĂe Eisengatter klopfte, um die Frauen zu besuchen, öffnete
mir ein kleines MĂ€dchen. Die ersten Male dachte ich, Mehreen sei eine Ver-
wandte auf Besuch. Jedoch je öfter ich kam, desto seltsamer erschien mir die
Situation, in der sich das MÀdchen befand. Einmal hörte ich von meinem
Zimmer aus ein verzweifeltes Weinen und Schluchzen. Ich wusste nicht,
woher es kam. Nach einigen Wochen, ich war gerade im Hof, um den Frauen
Brot vorbeizubringen, hörte ich das Weinen erneut. Ich beschloss, Ghulam
auf das Ereignis anzusprechen. Als ich zu ihm ging, sah ich eine Frau, die mir
vorher noch nie begegnet war, den Hof verlassen. Ghulam versuchte, sich zu
erklÀren: Die Frau, die eben gegangen war, sei Mehreens Mutter. Ghulam
sagte, das MÀdchen habe immer HeulkrÀmpfe, wenn sie komme. Warum?
Weil das Kind so gerne mit seiner Mutter nach Hause wolle. Die Mutter komme
einmal im Monat, jedoch nicht, um das MĂ€dchen zu besuchen, sondern um
ihr Geld zu holen: den Lohn, den Mehreen verdiente, weil sie von Ghulams
Familie als Dienerin beschÀftigt werde. Davon wisse das kleine MÀdchen aber
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, SituationalitÀt, ReflexivitÀt
- Category
- Medien