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49 nichts. Mehreen mĂŒsse in seiner Familie nicht hungern, so Ghulam, das
warme Bett und das tĂ€gliche Brot mĂŒsse sie sich aber erst verdienen. Ich hörte
Ghulams ErlÀuterungen an und konnte nichts erwidern. Ein paar Tage spÀter
erzÀhlte ich der Direktorin des SOS-Kinderdorfs in Lahore, was ich erlebt
hatte. FĂŒr sie war Mehreens Geschichte nicht neu â es gebe Hunderte, wenn
nicht Tausende solcher FĂ€lle, allein in Lahore. Das SOS-Kinderdorf nehme nur
Waisenkinder auf. FĂŒr Kinder wie Mehreen gebe es in Pakistan keine Anlauf-
stelle, wenigstens habe sie GlĂŒck im UnglĂŒck.
2.1.5 IM MALEREIBETRIEB
Ich wuchs in der vergleichsweise âheilenâ Welt der österreichischen 1980er-
Jahre auf. Langsam und verhalten begannen die Menschen damals, ĂŒber den
Schrecken zu sprechen, der im Nationalsozialismus geherrscht und sich in
Köpfen und Herzen festgesetzt hatte. Allerdings war ausgrenzender, rassisti-
scher und antisemitischer Sprachgebrauch nach wie vor ânormalâ. Wer anders
war, war noch immer (oder bereits wieder) nicht willkommen. Mein Vater
wurde 1939 geboren, hatte seine frĂŒhen Kindheitsjahre umgeben von ĂŒber-
zeugten Nazis verbracht und noch nach 1945, als kleiner Junge, das HorstÂ
Wessel Lied auf seiner Geige gespielt. Sein weiterer Lebensweg war zunÀchst
von der Herausforderung geprÀgt, sich in den ihm vorgegebenen Rahmen
einzufĂŒgen. Er ĂŒbernahm den Malereibetrieb seines Vaters.
Im Sommer half ich manchmal im vÀterlichen Betrieb aus. Ich fand die
Malerarbeit schön, ich mochte den Geruch von Farbe und kletterte gerne auf
den GerĂŒsten an den Fassaden herum. Der Umgangston zwischen den Arbei-
tern auf den Baustellen war eher rau, die Wortwahl immer wieder verstörend,
manchmal erschreckend. Was sich hinter so manchen SprĂŒchen verbarg,
konnte ich erst viel spÀter erkennen. So wurden zum Beispiel jene Stellen an
der Wand, die nicht sauber ausgemalt worden waren, als âJudâ bezeichnet.
In nassem Zustand wurden diese Stellen oft ĂŒbersehen, erst wenn die Wand
getrocknet war, konnte man sie erkennen. Als ich nachfragte, woher diese
Bezeichnung komme, wurde mir gesagt, es wĂŒrde so an der Berufsschule
gelehrt: Der Begriff âJudâ sei im Fachjargon ein Synonym fĂŒr schlampige Arbeit,
fĂŒr Flecken, die man ĂŒbersehen habe, die man ausbessern mĂŒsse.
Inzwischen bezeichnet mein Vater ausgelassene Stellen an einer Wand
nicht mehr als âJudâ. Ob seine damaligen Mitarbeiter das noch immer tun,
weiĂ ich nicht. Die Herausforderung hat sich fĂŒr meinen Vater umgekehrt. Es
geht fĂŒr ihn nicht mehr darum, sich möglichst gut anzupassen â nach 60 Jah-
ren hat er begonnen, die eigene Geschichte, das Denksystem und das Regelwerk,
in das er hineingeboren worden war, zu hinterfragen. Den Malereibetrieb gibt
es heute nicht mehr, meine Eltern haben unser Haus verkauft, wir haben es
gemeinsam ausgerĂ€umt und zurĂŒckgelassen.
âThe borderline work of culture demands an encounter with ânewnessâ
that is not part of the continuum of past and present. It creates a sense
of new as an insurgent act of cultural translation. Such art does not
merely recall the past as social cause or aesthetic precedent; it renews
the past, refi guring it as a contingent âin-betweenâ space, that innovates
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, SituationalitÀt, ReflexivitÀt
- Category
- Medien