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55 Wie die meisten meiner Kolleg_innen in der Albertina war Roland Barthes
kein Bildermacher. Er schreibt, dass er im Geflecht der Fotografie die Rolle des
spectator und des spectrum einnehmen könne â ĂŒber das VerhĂ€ltnis von
Fotograf_innen zur Fotografie, also die Ebene des operator, könne er jedoch
nur Spekulationen anstellen.
âZu einer dieser TĂ€tigkeiten hatte ich keinen Zugang, und ich brauchte
sie gar nicht zu befragen: ich bin kein Photograph, nicht einmal
Amateurphotograph; dafĂŒr habe ich zu wenig Geduld: ich muĂ auf der
Stelle sehen können, was ich gemacht habe (Polaroid? AmĂŒsant, doch
enttĂ€uschend, auĂer wenn ein groĂer Photograph sich damit abgibt).â
(ebd.: 17)
Studium und punctum
In der Konzeptualisierung von studium und punctum begreife ich Roland
Barthes als eine Art phÀnomenologischen Semiologen. Als studium bezeichnet
er jene Phase im Deutungsprozess, in der benannt wird, was bereits codiert
ist, dabei widme man sich einem Bild zwar mit Interesse, aber ohne von
ihm in besonderer Form berĂŒhrt zu sein. Als punctum hingegen bezeichnet
Barthes das ihn Beunruhigende beim Bilderlesen; das, was noch nicht
codiert ist, was nicht unmittelbar benannt werden kann und dennoch erfahr-
bar ist. Das punctum betrifft den_die Betrachter_in persönlich, es wird
dem Bild beim Ansehen zugefĂŒgt, obwohl es im Bild doch bereits vorhanden
ist (ebd.: 65). Es ist, so Barthes, wie ein Stich, der âwie ein Pfeil aus seinem
Zusammenhangâ hervorschieĂt (ebd.: 35), der quasi vom Foto ausgeht; erst
wenn man sich von dem Bild abwende, könne sich das punctum im Geist
entfalten.
âDas Photo rĂŒhrt mich an, wenn ich es aus seinem ĂŒblichen Blabla
entferne: ,Technikâ, ,RealitĂ€tâ, ,Reportageâ, ,Kunstâ und so weiter:
nichts sagen, die Augen schlieĂen, das Detail von allein ins affektive
BewuĂtsein aufsteigen lassen.â (ebd.: 65)
Roland Barthes beschreibt nicht nur, durch welche Fotos er ein punctum
erfĂ€hrt und wie sich dieses fĂŒr ihn zeigt. Er gibt auch eine Art Gebrauchs-
anleitung fĂŒr den Umgang mit solchen Fotos. Er schlĂ€gt vor, beim Bilderlesen
einen Zustand der Stille zuzulassen, gleichsam das Bild in der Stille zum
Sprechen zu bringen.
Studium und punctum, verstanden als Methode beim Bilderlesen,
lassen sich im Museum gut anwenden â und das nicht nur beim Lesen
von Fotos. Als Kunstvermittlerin hatte ich meist eine knappe Stunde zur Ver-
fĂŒgung, um eine Gruppe von Menschen durch eine Ausstellung zu fĂŒhren.
Ich gab ihnen dabei jene Information, die mir notwendig erschien, damit
sie ihr studium in kleinem Rahmen betreiben konnten. Wenn Einzelne dabei
auf ein punctum stieĂen und das auch mitteilten, gelangten sie wie auch
die anderen in der Gruppe beim Bilderlesen mitunter auf eigene Denk- und
Assoziationswege â Momente, in denen Neues entstehen konnte. Insofern
bestimmte das punctum das studium, da sich durch das punctum das Interesse
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, SituationalitÀt, ReflexivitÀt
- Category
- Medien