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63 sich ein bestimmtes Bild nun tatsächlich in der kleinen Box befindet, ob ich
das Licht richtig eingeschätzt und gemessen habe, ob ich die korrekten Werte
auf der Kamera eingestellt habe, ob die Kamera entsprechend funktioniert
hat, ob der Film richtig eingelegt war, ob die Emulsion am Film weder durch
Kälte, Wärme oder vielleicht durch Röntgenstrahlen an einem Grenzübergang
Schaden genommen hat. Ich genieße diese Ungewissheit, obwohl sie mich
quält. Ich mag es, wenn ich Filme erst Wochen oder Monate nach der Aufnahme
entwickle, wenn auf dem Filmstreifen die bis dahin latenten Silberkörnchen
zum Vorschein kommen und zum Bild werden.
„Und wenn die PHOTOGRAPHIE Teil einer Welt wäre, die noch ein
gewisses Maß an Sensibilität für den Mythos besäße, so würde man
angesichts dieses reichen Symbols ganz gewiß frohlocken: der geliebte
Körper wird durch die Vermittlung eines kostbaren Metalls, des Silbers,
(Denkmal und verschwenderische Fülle) unsterblich; und die Vor-
stellung ließe sich nachtragen, daß dieses Metall, wie alle Metalle der
ALCHEMIE, lebendig ist.“ (Barthes 1985: 91)
Bilder zeigen
Die Negative, die bei den Aufführungen meiner fotografischen Choreografie
in den ersten Jahren entstanden, entwickelte ich meist erst nach einigen
Monaten. Ich machte Abzüge und archivierte meine Bilder in Kisten. Zwar
erzählte ich gerne von meinen Erfahrungen beim Fotografieren, zeigte aber
meist keine Bilder. Schließlich lernte ich den Fotografen Arno Fischer kennen
und erhielt die Gelegenheit, über ein paar Jahre hinweg immer wieder mit
ihm an meinen Bildern zu arbeiten. Er holte meine Bilder aus den Kisten,
nahm sich Zeit zum Schauen, erzählte zwischendurch von seiner eigenen
fotografischen Arbeit, vom Leben in der DDR, von Marlene Dietrich, die er in
Moskau fotografiert hatte, von seinem Garten und der Kuh, die ihm zugelau-
fen war. Er erzählte große Geschichten, um sich in ihren Details zu verlieren.
So ging er auch beim Reden über Bilder vor — er ließ die Bilder im Großen
wirken, um sich dann in die Einzelheiten zu vertiefen und zu entdecken, was
nicht offensichtlich war.
Abb. 13 Arno Fischer
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien