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75 Das eigene Bild und das der Anderen
Auf das Projekt in Angola folgten weitere in Pakistan, Afghanistan, Israel,
Palästina, Uganda und, dazwischen, auch immer wieder in Österreich. Das
vordergrĂĽndige Ziel der ersten ipsum-Projekte war das Anlegen eines Bild-
pools, der eine Alternative zur Bildberichterstattung aus westlich/okzidentaler
Perspektive darstellte. Notwendige Prämisse für mich war damals, dass weder
ich noch andere Fotograf_innen aus Österreich oder aus dem „reichen Norden“
diesen Bildpool mit Bildern befĂĽllten. Stattdessen sollten jene Menschen foto-
grafieren und ihre Geschichten erzählen, für die das Leben in Krisengebieten
Alltag ist, die die Krise mit allen Konsequenzen leben, dabei aber völlig abseits
des von den Medien kolportierten Weltgeschehens stehen. Im Laufe der Zeit
wurde bei den ipsum-Projekten die dialogische Arbeit innerhalb der Work-
shopgruppen immer wichtiger. Inzwischen ist das Konzept getragen von der
Idee der Perspektivenvielfalt durch das Wechselspiel von Subjekt- und Objekt-
positionen im fotografischen Geflecht. Die Menschen fotografieren selbst und
sprechen miteinander ĂĽber ihre Bilder. Es entstehen Situationen, in denen
das eigene Bild und die Bilder der Anderen gegenseitig gelesen und hinterfragt
werden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrungswelt und jener
der Anderen — kulturelle Differenzen — rücken ins Zentrum. In den langfristig
angelegten ipsum-Projekten wird intensiv in Gruppen gearbeitet. Durch ver-
schiedene Methoden — vom Fotografieren mit Lochkameras über Theater-
pädagogik, Fototechnik, Licht- und Schattenspiele bis hin zum gemeinsamen
Betrachten von Bildern und dem Sprechen über Bilder — werden die Teilneh-
mer_innen an die Fotografie als Medium herangefĂĽhrt und erhalten Impulse
zum selbstständigen Fotografieren im eigenen Alltag. In der Gruppe werden
die Ergebnisse immer wieder präsentiert und diskutiert. Alltägliches erscheint
so in einem neuen Licht, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten im jeweiligen
Blick auf den Alltag werden sichtbar. In einem solchen Gruppenprozess wird
fĂĽr den einzelnen Menschen Raum geschaffen, sich auszudrĂĽcken und dabei
gehört und gesehen zu werden. In der Verpflichtung zur Antwort, d. h. in der
Verantwortung, auf das Angesprochensein als Individuum zu reagieren,
und damit in der Differenzerfahrung, ist jeder und jede Einzelne unersetzbar,
seine_ihre Einmaligkeit entsteht gewissermaĂźen im Dazwischen von Selbst
und Fremd.
„Ich sein bedeutet von daher, sich der Verantwortung nicht entziehen
zu können, wie wenn das ganze Gebäude der Schöpfung auf meinen
Schultern ruhte. [...] Die Einzigkeit des Ich, das ist die Tatsache, daĂź
niemand an meiner Stelle antworten und verantwortlich sein kann.“
(Levinas 1989: 43)
Die Teilnehmer_innen (ipsum-Fotograf_innen) halten durch das Fotografieren
in ihrer eigenen Lebenswelt fest, was ihnen wichtig erscheint und entscheiden
selbst darĂĽber, ob und in welcher Form sie ihre Bilder auch auĂźerhalb ihrer
Workshop-Gruppe zeigen. In interaktiven Ausstellungen, im Internet und bei
Workshops werden Betrachter_innen eingeladen, mit den Bildern in Dialog zu
treten. Die Fotos erzeugen dabei in den Köpfen der Betrachter_innen weitere
Bilder. In der gemeinsamen Auseinandersetzung mit den Fotos kommen mit
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien