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83 „Verinnerlichung des Konkurrierens“ noch durch internationale Leistungs-
tests und eine europäische Bildungspolitik, die Europa zum Bildungsstandort
Nummer eins im Sinne globaler Wettbewerbsfähigkeit machen möchte. Wer
am Ende gewinnt oder verliert, als wissend oder unwissend gilt, wird durch
eine nur vermeintlich faire, höhere Instanz entschieden.
Mit der Metapher vom Bankierssystem der Erziehung beschreibt und
kritisiert Paulo Freire gleichermaĂźen die Bildungssysteme in Brasilien wie auf
globaler Ebene (Freire 1978: 57ff.). Er vergleicht die Situation der SchĂĽler_in
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nen darin mit Bankkonten oder Containern, die ihre Einlagen und Inhalte von
den Lehrer_innen erhalten.
„Im Bankiers-Konzept der Erziehung ist Erkenntnis eine Gabe, die von
denen, die sich selbst als Wissende betrachten, an die ausgeteilt wird,
die sich als solche betrachten, die nichts wissen. Wo man anderen aber
absolute Unwissenheit anlastet — charakteristisch für die Ideologie
der Unterdrückung —, leugnet man, daß Erziehung und Erkenntnis
Forschungsprozesse sind.“ (ebd.: 58)
Auf der Basis eines solchen Verständnisses von Bildung kann kein wechsel-
seitiges Lernen zwischen Lehrer_innen und SchĂĽler_innen stattfinden. Die
einzelnen Lernenden werden aufgefordert, als Manager_innen ihres eigenen
„unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) zu agieren, was ihnen einen
verwertbaren Vorteil gegenĂĽber der Konkurrenz verschaffen soll, mit dem
Ziel, vielleicht irgendwann selbst eine gewisse Machtposition innezuhaben.
Während privilegierte Lernende über die notwendigen Kapitalformen
ver
fĂĽgen, die ihnen einen relativen Vorteil gegenĂĽber weniger privilegierten
Lernenden im gesamten Bildungssystem verschaffen (Bourdieu 1998: 21),
haben es nicht privilegierte Lernende erheblich schwerer, ihre soziale Aus-
gangslage zu verlassen. Steigende Leistungsanforderungen fĂĽhren entweder
dazu, dass man in die eigene Ausbildung investiert oder dass man, sollten
etwa die notwendigen finanziellen Mittel fehlen, resigniert und dies womög-
lich als selbstverschuldet wahrnimmt.
Wenn an die Stelle von Bildung ein einseitiges System der Wissensver-
mittlung in der Funktionsweise von Spareinlagen tritt, muss die Frage gestellt
werden, wer ĂĽber den zu vermittelnden Wissenskanon bestimmt. Ein System
der Wissensvermittlung ist auf den ersten Blick nicht grundsätzlich zu verur-
teilen, wenn es darum geht, einen bestehenden Wissenskanon zu bedienen
und zu teilen, um ihn durch gemeinsames Lernen anzureichern und wachsen
zu lassen. Problematisch wird die Situation jedoch, wenn dies ein einseitiger
Prozess bleibt. Wird Bildung nicht von wechselseitigem Erkenntnisinteresse
getragen, können Menschen in ihrem eigenen Bildungsprozess nicht an der
Ausgestaltung und Weiterentwicklung dieses Wissenskanons mitwirken.
Dann verliert Bildung unweigerlich ihren forschenden Charakter und damit
ihr grundlegendes Ziel: es Menschen zu ermöglichen, ein Verhältnis zu sich,
zu anderen und zur Welt aufzubauen. Der generative Gehalt von Bildung geht
verloren, der Bildungsbegriff an sich löst sich auf. Daraus wiederum ergibt
sich eine Reihe an Folgefragen, beispielsweise, ob Bildung und Entwicklung
tatsächlich zu einer Überwindung von Armut und Ungleichheit beitragen
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien