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wĂĽrden, falls, wie vom Plan der Millenium Development Goals bis 2015 (!)
vorgesehen war, allen Kindern weltweit die Primärschulbildung zugänglich
wäre (UN 2010: 15; UN 2013). Welche Ziele werden mit solchen Plänen ver-
folgt? — Geht es darum, noch mehr „Konten“ zu eröffnen? Oder soll das
Denken und Handeln der Menschen weltweit gefördert werden, damit sie als
kritische Subjekte in die Welt treten? Welche Ziele werden verfolgt, wenn
nationale Erwachsenenbildungsprogramme auf Alphabetisierung setzen —
wie sie mit Freires Alphabetisierungskampagnen einen Anfang nahmen und
beispielsweise durch das Kubanische Programm „Yo sà puedo“ in weiten Tei-
len Lateinamerikas Verbreitung finden (Torres 2008: 552)? Ist es Ziel solcher
Kampagnen, dass Menschen zur Ausbildung der eigenen, intellektuellen Selbst-
ständigkeit lesen und schreiben lernen, oder soll mit ihrer Hilfe vornehmlich
erreicht werden, dass noch mehr Menschen lesen und schreiben können,
was ihnen vorgeschrieben wird? Letzteres, nämlich einzelne Worte (ab-)lesen
und schreiben zu lernen, ohne ihren Gehalt dabei umfassend zu hinterfragen
und zu erforschen, wäre eine Form der Alphabetisierung, die Paulo Freire dem
Bankierssystem zuordnet. Einzelne Worte werden so nur als WorthĂĽlsen in
den Köpfen eingelagert. Auf diese Weise verkommen Alphabetisierungs-
bestrebungen allzu leicht zu einem sinnlosen Auswendiglernen ohne Lebens-
relevanz. Als solche sind sie gut geeignet, bestehende Herrschafts- und
Machtstrukturen zu reproduzieren.
Paulo Freire setzt sich auch intensiv mit Bildungssystemen auĂźerhalb
Brasiliens auseinander. Er fragt in diesem Zusammenhang, wie es möglich
sein könne, dass Kinder in industrialisierten Ländern nicht gerne in die Schule
gehen (Freire 2007). Wie SchĂĽler_ innen ĂĽber Schule denken, haben Studie-
rende in einem der Lehr-Lern-Forschungsprojekte zusammen mit SchĂĽler_in
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nen eines Wiener Gymnasiums im Sommersemester 2014 erforscht (Kraus
et al. 2014).13 Eine mögliche Antwort auf Freires Frage mag sich darin finden,
was die SchĂĽler_innen beim Nachdenken ĂĽber ihre Fotos zum Thema Schule
feststellen:
„Für was braucht man das? Ich glaube nicht, dass ich [das] je in meinem
Leben […] brauche.“ (ebd.: 44)
„[D]as spiegelt unser Bildungssystem wider: die Schüler sitzen nur da,
weil sie sitzen müssen.“ (ebd.: Anhang)
Paulo Freire sieht eine zentrale Antwort auf die Frage, warum Kinder in
industrialisierten Ländern nicht gerne zur Schule gehen, darin, dass Neugier
als Methode nicht zur Anwendung gebracht wird:
13 Den Rahmen zu diesem Projekt bildete das Forschungsseminar „Zwischen, quer und
jenseits. Kultur — Bildung — Migration in transdisziplinärer Forschungspraxis“, das ich im Studien-
jahr 2013/14 gemeinsam mit Gerald Faschingeder konzipiert und geleitet habe.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien