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Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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100 lesen und schreiben konnte. Analphabet_innen waren vom Wahlrecht ausge- schlossen (Mayo 2006: 30). Erst im Rahmen des sozialreformerischen Regie- rungsprogramms von João Goulart wurde ihnen das Wahlrecht eingeräumt. Zeitgleich setzte Goulart auf seine Agenda das Ziel, zwei Millionen Menschen zu alphabetisieren. Innerhalb kürzester Zeit sollten in 20.000 Kulturzirkeln über ganz Brasilien verteilt freirianische Alphabetisierungsprojekte stattfin- den (Freire 1980: 61). Das Konzept der Kulturzirkel sollte das passive Verständ- nis von Schule ersetzen und sah demgemäß vor, dass die Teilnehmer_innen der Zirkel selbst Themen aus dem eigenen Lebensumfeld einbrachten, um dann in Gruppendiskussionen Handlungsmöglichkeiten auszuloten, die ihnen zu einem besseren Leben verhelfen könnten. Freire beschreibt die Jahre zwi- schen 1961 und 1964 als jene Zeit, aus deren Erfahrungen sich all seine weite- ren Projekte speisten. Die geplante Massenalphabetisierung sollte nicht nur die breitenwirksame Vermittlung einer Kulturtechnik ermöglichen. Im Kern ging es um eine politische Kampagne mit hohem transformativen Gehalt für das brasilianische Volk und den Staat, und mit explosivem Gehalt für die Eliten, die zurück an die Macht drängten. Freires Ansatz erfüllte beides: Bildung in Form von konkreten Techniken, die zum einen gut messbare, quantitative Werte für die Senkung der Analphabet_innen-Rate lieferten. Zum anderen — und für Freire selbst von noch größerer Relevanz — wurden dadurch Bildungs- prozesse angeregt, die sich weniger offensichtlich in Zahlen gießen ließen. Aber Goularts Alphabetisierungsplan fand durch den Militärputsch 1964 ein jähes Ende. Was Freire mit dem Begriff conscientizacão (Freire 1980; 1981) bezeichnete — nämlich eine dialogische Bildungspraxis, die auf dem Wechsel- verhältnis von Aktion, Reflexion und Dialog fußt —, war für die Militärdiktatur ein unberechenbarer Faktor, eine Bedrohung: „Ich glaube, es war die Gesamt- heit dieser Umstände, die enorme Kraft, die in diesem Prozeß freigesetzt wurde, welche die Herrschenden aufschreckte.“ (Freire 1981: 214). Paulo Freire wurde inhaftiert und musste seine Heimat verlassen. Er ging ins Exil und konnte erst 1980 nach Brasilien zurückkehren (ebd.: 221). In der Auseinandersetzung mit Paulo Freires Wirken in Brasilien und seinem Bildungsbegriff stoße ich, je nach theoretischer Brille, auf eine Viel- zahl an Lesarten.17 Eine Begründung für das Missverstehen seines Ansatzes findet man vor allem in den Schriften jener, die Freires Bildungspraxis als mechanistisches Vorgehen rein nach Rezept beschreiben und den Alpha- betisierungsprozess auf das Erlernen der Techniken des Lesens und Schrei- bens reduzieren. Eine andere Quelle für Missverständnisse stellt der Begriff der conscientizacão dar. Seiner ursprünglichen Bedeutung gemäß wird conscientizacão in den freirianischen Alphabetisierungsprojekten durch die Erforschung von generativen Wörtern seitens der beteiligten Menschen eingeleitet. Conscientizacão vollzieht sich also, sobald die Menschen diese Wörter in den Mund nehmen und sie, mit der Hand schreibend, aufs Papier bringen, sie im Dialog zerpflücken, ihre verschiedenen Bedeutungs- horizonte ausloten, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Wortsilben 17 Peter Mayo bietet dazu einen guten Überblick und verweist auf die verschiedensten Stimmen, die sich zu Paulo Freire äußern (Mayo 1995: 364).
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Generative Bildarbeit Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
Title
Generative Bildarbeit
Subtitle
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
Author
Vera Brandner
Publisher
transcript Verlag
Date
2020
Language
German
License
CC BY 4.0
ISBN
978-3-8394-5008-6
Size
14.8 x 22.5 cm
Pages
276
Keywords
Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
Category
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