Page - 191 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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191 Im fotografischen Spannungsfeld ergeben sich für die Teilnehmer_innen ver-
schiedene Ambivalenzen: Die einen können sehen, die anderen werden gesehen,
beobachtet oder benutzt; die einen fühlen sich benutzt und beobachtet, die
anderen freuen sich über die Aufmerksamkeit, die ihnen durch das Gesehen-
Werden zukommt. Die Ambivalenzen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Sehen/gesehen werden
Im fotografischen Spannungsfeld nehmen die Teilnehmer_innen verschiedene
Rollen ein. Als Fotograf_innen, Betrachter_innen und Fotomotive lernen sie
wechselnde Blickwinkel und Erfahrungsmodi kennen: Einmal sind sie eher
jene, die schauen, dann sind sie wieder jene, die betrachtet werden. Manch-
mal verschwimmen diese Grenzen, dann wird unklar, wer sehen kann und
wer gesehen wird. Die Auseinandersetzung mit dieser ambivalenten Situation
stellt eine Herausforderung für die Teilnehmer_innen dar.
Mit/ohne Ansprechen
Die Teilnehmer_innen beschreiben ambivalente Situationen, wenn sie sich
entscheiden mussten, ob sie andere Menschen ansprechen, um sie zu fotogra-
fieren oder nicht. Dabei stellten unklare Verhältnisse zwischen ihnen und
möglichen Fotomotiven eine Herausforderung dar. Eine Hürde besteht, den
Aussagen in den Forschungstagebüchern zufolge, vor allem darin, Kontakt
mit Fremden aufzunehmen. Hierbei geht es zum einen um die Angst, anderen
Menschen durch die Anfrage, ob man sie fotografieren dürfe, zu nahe zu
treten. Zum anderen geht es um die Unsicherheit, wie die anderen Menschen
einen selbst wahrnehmen, wie sie über einen denken. Die mitunter erfahrene
Ablehnung beim Versuch, Menschen um ein Foto zu bitten, verstärkt in vielen
Fällen die Angst davor, sich erneut in diese Situation zu begeben.
Würdigen/benutzen
Beim Fotografieren ergibt sich immer wieder die Situation, dass die Menschen
vor der Kamera sich freuen, dass sie fotografiert werden. Umgekehrt wird das
Fotografieren aber auch oft als eine Form der Aneignung verstanden. Je nach-
dem, wie die Beteiligten im fotografischen Spannungsfeld ihre Beziehung
zueinander gestalten, kann es dabei zu respektvollen, aber auch zu entwürdi-
genden Situationen kommen. Für die Teilnehmer_innen wird die Gratwande-
rung zwischen Würdigen und Benutzen zur Herausforderung.
Authentisches/gestelltes Bild
Als bildgebendes Verfahren scheint die Fotografie zu versprechen, authen-
tische Abbilder zu erzeugen. Die Teilnehmer_innen sind durch dieses
unterschwellige Versprechen gefordert, da sie immer wieder erwarten, das,
was sie fotografieren, auf „echte“,„ehrliche“ und „authentische“ Art vermit-
teln zu können. Dabei wird das Ansprechen von Menschen für ein Foto
und deren Posieren als Hindernis betrachtet. So wird von den Teilnehmer_
innen auch die beim Fotografieren erfahrene Ambivalenz beschrieben,
dass sie authentische Fotos anstreben, dabei jedoch annehmen, dass diese
eher beim heimlichen Fotografieren unter Vernachlässigung ethischer
Ideale entstünden.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien