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Ich kenne dieses Gefühl aus eigener Erfahrung, und es fühlt sich echt nicht gut an, von fremden
Menschen, und ohne gefragt zu werden, fotografiert zu werden. Ein bisschen wie im Zoo, wie ein
seltsames Tier, das nicht nur angestarrt, sondern auch noch fotografiert wird! Schrecklich! Das
passierte mir aber nicht hier in Wien, hier falle ich weniger auf, als während eines Nigeria-Aufent-
haltes. An das Angestarrt-Werden gewöhnt man sich ja mit der Zeit, […] doch wenn Jugendliche ihr
Blackberry zücken und sich dreist vor dich stellen, um ein Bild von dir zu machen, da stößt selbst
mein Kulturverständnis an seine Grenzen. (82/I/29)
Von einer Person wurde die Problematik durch den Einsatz eines
Teleobjektives gelöst. Damit erübrigt sich das Ansprechen von
Personen. Jedoch inwiefern dabei gegen ethische Grundsätze der
Fotografie verstoßen wird, ist für mich nicht ganz eindeutig. (78/
II/5)
Sobald man eine Kamera in der
Hand hält (vor allem eine in der
Größe einer Spiegelreflexkame-
ra), sind sofort alle Blicke auf
einen gerichtet: Was macht die
da? Wen oder was fotografiert
sie? (89/I/3) Die bereits in den Post-Its
geäußerte Anonymität kam auch
während dieses Gesprächs wie-
der auf. [...] Auch das Unsicht-
bar-Sein als Fotograf_in wurde
in diesem Zusammenhang
geäußert, zwar sehe ich die
ganzen Autos, Fußgänger_innen
und Radfahrer_innen, die ich
ablichte, aber sie selbst sehen
mich nicht. (96/II/4) Weil mir im Zusammenhang
mit Beobachtung gezwunge-
nermaßen auch das Thema
Überwachung in den Sinn kam,
habe ich mich entschieden,
jetzt mit Videoüberwachungs-
kameras zu arbeiten. (63/I/178)
Und wer überwacht die, die uns überwachen? Wer bestimmt, wer
oder was zur allgemeinen Sicherheit beobachtet werden muss?
Ich jedenfalls nicht. Die Überwachenden fühlen sich wohl nicht
überwacht. Ich habe deswegen das überwachende Auge fotogra-
fiert, mitten hinein. Da frag ich mich doch, wieso ich Skrupel
habe, Menschen zu fotografieren, wo wir doch sowieso alle stän-
dig auf Videos festgehalten werden ... (73/II/39–40)
Mein Fotografieren zog die interessierten Blicke anderer Pas
sant_
in
-
nen auf uns. Ich hatte das Gefühl, als würde durch das Fotogra-
fieren die Darbietung des Musikers plötzlich erst gesehen werden.
In etwa so: „Moment, was fotografiert die denn da?“, „He, da
spielt ja einer ein Instrument!“, „Das ist ein Künstler und er spielt
für uns!“. Als ich ging, bedankten wir uns beieinander, ein schönes
Erlebnis. Vielleicht werde ich ab jetzt öfter versuchen, Menschen
zu fotografieren. (73/I/52)
Abb. 61 Auszüge aus den Forschungstagebüchern: Sehen/gesehen werden
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien