Page - 193 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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193 Nicht um Erlaubnis zu fragen ist für mich sehr unhöflich. Ich
möchte niemandem zu nahe treten. Aber sie hatte Recht, wenn
ich vorher frage, dann ist das Bild nicht mehr das Gleiche. Es ver-
ändert sich in seiner Grundstruktur. Fragen oder nicht fragen –
ich war im Zwiespalt. (89/I/6)
Ich wollte auf jeden Fall den Nudelkoch vorher um Erlaubnis bzw. Zustimmung fragen, so
viel stand fest, doch was soll ich sagen? Erzähle ich ihm, dass ich das Foto für die Uni
brauche? Dass ich Ausländer_innen beim Kochen in Wien fotografieren will? Dass ich an
einem Kunstprojekt teilnehme? Oder frage ich einfach nur, ob ich ihn fotografieren darf?
Hinter uns stehen bereits die nächsten Kunden, die hungrig auf ihre Noodlebox warten,
also habe ich nicht viel Zeit, um ihm mein Anliegen verständlich zu machen. Aus Erfahrung
weiĂź ich, dass derartige Anfragen oft unbegrĂĽndet abgelehnt werden. Also doch lieber
schnell und unbemerkt aus der HĂĽfte knipsen? Zahlen und schnell weitergehen? Der Mann
wird mich nie wieder sehen. Ich ĂĽberlege hin und her, sammle meinen Mut zusammen,
richte mir die richtige Anfrage im Kopf schon parat, und, wie es Fast-Food so an sich hat,
dauert der Nudelwärmprozess nicht allzu lange und wir verlassen den Verkaufsstand –
ohne ein Foto gemacht zu haben. Nicht weil er ablehnte, sondern weil ich nicht gefragt
habe. (82/I/30)
Dabei stehe ich wieder vor dem Dilemma, Menschen ansprechen
zu mĂĽssen, wobei es sehr viele Absagen gibt, was fĂĽr mich jedes
Mal aufs Neue sehr entmutigend ist. Oder ich zoome mit meiner
Kamera Menschen heran, wodurch ich nicht um Erlaubnis fragen
muss. Aber dabei entstehen nicht wirklich gute Fotos – ich
habe eine einfache Digitalkamera und nicht eine Spiegelreflex-
kamera mit Teleobjektiv, bei der die Möglichkeit besteht, Personen
aus weiter Distanz zu fotografieren, ohne aufzufallen – und ich
stehe vor dem Dilemma, inwiefern dies moralisch und ethisch von
mir überhaupt zu vertreten ist. (78/II/13) Wir kennen das alle – die Angst,
auf einem Foto nicht gut
aus zusehen, scheint eine Art
Urinstinkt zu sein. [...] Am Weg
nach Hause wollte ich noch
einen Bettler fotografieren,
er stand vor einem BILLA und
WARTETE darauf, dass ihm
jemand Geld in seine MĂĽtze
warf. Ich traute mich nicht. Ich
bereue es jetzt noch, ihn nicht
gefragt zu haben. (89/I/5–6)
Nachdem ich ein paar Menschen auf der Mariahilfer StraĂźe an
der Ampel mit der Kamera eingefangen hatte, entdeckte ich ein
Mädchen, dass in der Telefonzelle stand und rauchte ... Sollte
ich sie einfach fotografieren? Ich stand zwei Meter neben ihr
und sie hat mich bereits angelächelt. Ich zögerte kurz, drehte
mich dann doch zu ihr um und fragte sie, ob ich ein Bild machen
darf. Sie sollte einfach so bleiben, wie sie ist. „Dann hättest du
am besten gar nicht fragen sollen. Einfach abdrücken wär dann
besser gewesen. Jetzt tu ich mir schwer!“, war ihre Antwort –
und sie hatte recht. Sie wirkte nicht mehr so natĂĽrlich, wie ich
sie vorher sah. (89/I/5)
Abb. 62 AuszĂĽge aus den ForschungstagebĂĽchern: Mit/ohne Ansprechen
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien