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Heute kam ich wieder in die Situation, ein Foto von jemandem
machen zu wollen. Vorsichtig habe ich gefragt und schnell
beteuert, dass das Gesicht eh nicht auf dem Foto drauf sein wird.
Doch siehe da, ein Lächeln und der Hinweis darauf, dass er als
Straßenkünstler, drüben im ersten Bezirk, eh auch ständig foto-
grafiert wird. Trotzdem habe ich keine Fotos von seinem Gesicht
gemacht, es käme mir irgendwie respektlos vor. (73/I/51) Schließlich bin ich es, die die
Kamera in der Hand hält, die
Fotos macht und diese dann, in
einem mir passenden Rahmen,
präsentiert. Ich denke, das ist
der Grund, warum ich kaum
Menschen fotografiere, weil ich
niemanden „benutzen“ möchte.
(73/II/58)
Außerdem habe ich Angst, ihn
benutzt zu haben, ihn für meine
Zwecke instrumentalisiert zu
haben. (91/II/5)
Mir fällt auf, dass es mir überraschend unangenehm ist, in der
Öffentlichkeit zu fotografieren – vor allem gegenüber jenen, die
auf den Fotos abgebildet werden. Erstmals fällt mir in diesem
Ausmaß auf, wie stark es sich bei Fotografie um einen Eingriff in
die Privatsphäre handelt. Die abgebildete Person wird gleichsam
dupliziert, wobei ich es mir als Fotograf vorbehalten ist, das
Duplikat ungefragt für mich zu beanspruchen. [...] Meine Produk-
tion von Fotomaterial wird wohl – zumindest für den Moment –
zum größten Teil die Abbildung von Menschen aussparen.
(85/I/6)
Wenn ich jemanden fotografiere und ihm oder ihr das Foto nicht
gebe, sondern es mitnehme, habe ich das unweigerliche Gefühl,
als hätte ich der Person etwas gestohlen. Kann ich es einfach
mitnehmen, gehört es mir? Manchmal kommt es mir vor, als
würde ich einen Teil der Person einfangen. Ein Foto kann etwas
sehr Intimes sein ...(73/I/51)
Ich habe mich in dieser Situation sehr unwohl gefühlt, weil ich nicht wirklich das Gefühl hatte, dass
dieser Mensch sein Interesse richtig artikulieren konnte, weil er ein bisschen teilnahmslos gewirkt
hat. Ich wusste nicht, ob ich Grenzen überschritten habe, die er nicht richtig ziehen konnte, weil er
vielleicht nicht ganz bei Sinnen war? Gleichzeitig möchte ich ihm aber auch nicht die Fähigkeit
absprechen, für sich selbst sprechen zu können. Außerdem habe ich Angst, ihn benutzt zu haben,
ihn für meine Zwecke instrumentalisiert zu haben. (91/4–5)
Außerdem wollte ich ihn* nicht
für mein auch als fotografische
Dekonstruktion gedachtes Foto
ausnützen und für meine Uni-
arbeit instrumentalisieren.
(074/III/15) Aber egal, ob ich jetzt Personen bezüglich eines Fotos befrage
oder sie aus weiter Distanz sozusagen heimlich fotografiere, bei
beidem schwingt für mich im Unterbewusstsein immer irgendwie
der Begriff „Menschenzoo“ mit. Also, ich fotografiere Menschen
ab, so wie irgendwelche Tiere im Zoo. (78/II/13)
Abbildung 63: Auszüge aus den Forschungstagebüchern: Würdigen/benutzen
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien