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[...] auf die Straße [...] zu gehen, Menschen anzusprechen und sie zu fotografieren. Zuerst
einmal ist das gar nicht so einfach zu bewerkstelligen. Menschen laufen vorüber, sind mit
sich selbst oder eher noch mit einer Aufgabe beschäftigt. [...] Dementsprechend reiße ich
sie kurzfristig aus ihren Plänen heraus. Ich sage ihnen, dass ich sie gerne für ein Foto-
projekt an der Uni Wien fotografieren würde, dass die Bilder keinem kommerziellen Zweck
dienen werden und dass diese nicht im Internet verbreitet werden. Was ich ihnen schuldig
bleibe, ist ihnen zu sagen, warum ich genau sie fotografieren will. (94/III/1)
Ich war bisher immer am Weg zur Uni an dem Camp vorbeigegangen. Diesmal bin ich hingegangen
und habe gefragt, ob ich mich dazusetzen dürfe. So entstanden sehr intensive Gespräche und
schließlich habe ich mich auch getraut zu fragen, ob ich Fotos machen dürfe. Es war ihnen wichtig,
dass ich das Foto nicht „für die Gegenseite“ missbrauche, aber nach meiner Zusicherung, dass
ich es nur im Rahmen einer LV auf der Universität verwenden würde und mit Menschen, die ihnen
gegenüber positiv eingestellt sind (wovon ich doch in unserer Gruppe ausgehe), stimmten sie zu.
Sie zeigten mir auch das Innere ihrer Zelte, damit ich mir von ihrer Situation ein Bild machen könn-
te. Ich habe viel zugehört. Ein Flüchtling* erzählte mir von seinem* Schicksal und seiner* Sicht auf
den österreichischen und europäischen Umgang mit Flüchtlingen. (74/III/1)
Ich habe alle Menschen auf den Fotos [...] diesmal um Erlaubnis
gefragt, ein Foto von ihnen machen zu dürfen, und bin auf sie
zugegangen, habe mit ihnen gesprochen oder mich auch für sie
interessiert und das erste Mal in meinem Leben einer Straßen-
musikantin* Geld gegeben, einen Augustin gekauft und mit
Flüchtlingen gesprochen. So sind nicht nur Fotos, sondern auch
neue Erfahrungen zustande gekommen. (74/II/3)
Sobald mich eine Person irgendwie interessiert hat, habe ich
gefragt, ob ich ein Foto machen könnte. Ich habe dann nur
gesagt, dass sie bitte die Spiegelfliese halten sollen, wie sie wol-
len und dreinschauen/machen sollen, was sie wollen. Außerdem
habe ich von jeder Person nur ein einziges Foto gemacht, und
das sofort, sobald die Person gesagt hat, dass sie bereit ist.
(76/II/42) Ich habe [...] ein „Fotoshooting“
mit meiner Familie veranstaltet,
[...]. Ich habe meine Mutter,
meinen Vater und meinen Bru-
der jeweils einmal mit meinem
violetten gemusterten Kopf-
tuch und mit meinem Stoff-
hasen fotografiert. Was ich
dabei sehr spannend fand, war,
wie jeder von ihnen mit den
Gegenständen anders umge-
gangen ist, damit sein eigenes
Bild kreiert hat. (75/III/23)
Ich habe es geschafft! Endlich habe ich meine Hemmungen
überwunden und mich getraut, ein Mädchen zu fragen, ob ich
das kleine Kind an ihrer Hand – vermutlich ihre Schwester
oder eine andere Verwandte – fotografieren darf. Zu meiner
großen Überraschung sagte das Mädchen sofort ja [...]. (74/I/5)
Viele Leute haben sich geweigert – einer hat gemeint, er hätte keine Zeit
[...], eine wollte kein Foto von sich machen lassen, einer hat gemeint, heute
nicht, aber morgen zur selben Zeit am selben Ort würde gehen. Nach dem
vierten Foto habe ich aufgehört. (76/II/43)
Abb. 66 Auszüge aus den Forschungstagebüchern: Motivwahl, Menschen ansprechen und
um Erlaubnis bitten
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien