Page - 210 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
Image of the Page - 210 -
Text of the Page - 210 -
210
Die Kollegin* [...] fotografierte,
was Menschen hinterließen –
z.  B. einen Kaugummi am
Boden. Mithilfe der Nahaufnah-
me lenkte sie so wie auch die
anderen Gruppenmitglieder den
Blick der Betrachter_innen auf
etwas, das im Alltag von diesen
sonst vielleicht ĂĽbersehen wor-
den wäre. (74/III/4) Ich habe heute die Kamera aus
ZeitgrĂĽnden auf den Weg in die
Uni eingepackt, es war sehr kalt
und stĂĽrmisch, weswegen ich
viel auf den Boden schauen
musste um mich vor dem kalten
Wind zu schĂĽtzen. Da kam mir
eine Idee: Spurensuche. Ich bin
auf der Suche nach Menschen,
und um sie zu finden, muss ich
vorher ihre Spuren lesen. (89/
II/4)
Heute habe ich vor allem „von oben“ fotografiert. Man bekommt eine ganz andere
Perspektive von dem [!] Geschehen und „Getümmel“ auf der Straße. Alles bewegt
sich, wie kleine Ameisen oder Spielzeugautos flitzen die in Bewegung gesetzten
Verkehrsmittel oder auch Menschen herum. [...] Bei meiner fotografischen Tätig-
keit sind Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven entstanden – auf gleicher
Ebene (auf Augenhöhe), von innen nach außen, aus der Perspektive eines Klein-
kindes oder Hundes, d.  h. eher von unten, von oben nach unten blickend und von
unten (weit) hinaufblickend. Vielleicht eine Art von Betrachtungsweise – über-
legen, auf Augenhöhe, unterlegen? (87/II-III/13–14)
Schließlich – „Mit wem bin ich auf Augenhöhe?“ – „Was
passiert, wenn wir die Perspektive wechseln?“. Auch
hier fand ich die Doppeldeutigkeit sehr spannend – wer
ist auf der Höhe des Auges (und so gesehen auch meiner
Kamera)? – wer wird gängigerweise „auf Augenhöhe“,
wer von unten, wer von oben fotografiert? Welche Pers-
pektive ist in der Betrachtung verschiedener Menschen
und Menschengruppen vorherrschend? Und welche
Auswirkungen hat das darauf, ob der/die Betrachter_in
die Fotografierten „auf Augenhöhe“ wahrnimmt?
Schließlich – welche Wirkung kann es haben, diese
Perspektive zu wechseln? (66/II/18)
Das Konzept fĂĽr die zweite Bil-
derserie wird aber schwieriger
umzusetzen, das war mir ja
auch bewusst. Ich will den Blick
vom Rand – und vom Boden –
auf die StraĂźe zeigen. DafĂĽr
muss ich es allerdings erst
schaffen, die nötige Position
einzunehmen. Das ist im beleb-
ten öffentlichen Raum ja nicht
normal und bleibt auch sicher
nicht unbeachtet. (97/II/1) Dem Konzept bin ich ungefähr
gefolgt: jeweils eine Fotoserie,
auf der sich die Bilder bzw. die
Standpunkte oder Perspektiven
immer mehr von der Mitte
hin zum Rand bewegen. Am
Schluss jeweils eine Aufnahme
hinunter auf den Boden, um
zu zeigen, dass noch immer ein
gewisser Niveauunterschied
besteht. (97/II/5)
Abb. 76 AuszĂĽge aus den ForschungstagebĂĽchern: Perspektivenwechsel
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien