Page - 221 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
Image of the Page - 221 -
Text of the Page - 221 -
221 5.3 VOM FOTOGRAFISCHEN ZUM ALLTÄGLICHEN
„Da die Erfahrung der Grenze, hinter der Fremdheit liegt, im Alltag
oft gar nicht bewusst wird, müssen wir erst aufmerksam werden auf
jene Bereiche, die aus der Normalität ausgegrenzt sind, die normal
nicht und nicht als normal wahrgenommen werden, aufmerksam
werden auf jene Menschen, die an den gesellschaftlichen Rand und
darüber hinaus gebracht worden sind.“ (Jäggle 2004)
Die Theorieskizze macht nachvollziehbar, dass das Phänomen Menschen
fotografieren Menschen als Situation kultureller Differenz im fotografischen
Spannungsfeld begriffen werden kann. Was mit Blick auf die Fotografie
von den Teilnehmer_innen diskutiert und bearbeitet wurde, kann als Heraus-
for derung im täglichen Miteinander auf allgemeiner Ebene betrachtet werden.
Es ergeben sich alltägliche Grenzsituationen, die wiederum zu verschiedenen
Formen von Grenzarbeit führen. Dementsprechend können jene Phänomene,
die ich als Grenzsituationen und Grenzarbeit im fotografischen Spannungs-
feld bezeichne, auf Situationen kultureller Differenz im Alltag übertragen
werden. Eine zusammenfassende Ausführung dazu findet sich im folgenden
Abschnitt:
Mit dem Begriff des fotografischen Spannungsfeldes fasse ich alle Rollen,
Positionen, Tätigkeiten und Beziehungen zusammen, die sich durch die
Fotografie zwischen Menschen ergeben, jedoch von ihnen nicht bewusst als
Interaktionen wahrgenommen werden. Es werden üblicherweise im foto-
grafischen Spannungsfeld diverse Aktionen gesetzt — jedoch ohne dass über
diese eine dialogische oder reflektierende Auseinandersetzung stattfindet.
Dennoch finden Blickwechsel zwischen den verschiedenen Akteur_innen
statt, wodurch ein gemeinsamer Raum aufgespannt wird. Die Beteiligten
befinden sich je nach Rolle an bestimmten Positionen in diesem Raum.
Diese Grenzsituationen können anhand der Dimensionen Angst/Freude und
persönliches Begehren/ethische Ideale beschrieben werden. Sie sind von Unsi-
cherheit geprägt, vor allem, was das Miteinander zwischen den beteiligten
Menschen angeht. Ambivalenzen auf verschiedenen Ebenen werden zur Her-
ausforderung für die Beteiligten. Es rücken Fragen ins Zentrum, die Formen
von Unsicherheit bis hin zu Angst zum Ausdruck bringen und das Handeln
und Denken der Beteiligten im fotografischen Spannungsfeld bestimmen:
Wer/was/wo wird gesehen und wer/was rückt ins Abseits? Welchen Konven-
tionen im Umgang mit Nah- und Distanzverhältnissen muss entsprochen
werden? Wo verlaufen die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen?
In welchen Formen lassen sich Erfahrungen abbilden und worin bestehen
die Grenzen zwischen Abbild und Wirklichkeit? Es handelt sich dabei um
Fragen, die gleichermaßen in diversen lebensweltlichen Zusammenhängen
abseits des fotografischen Feldes gestellt werden können. Sie betreffen Grenz-
situa tionen im Allgemeinen, in denen sich gewohnte Ordnungen im Umbruch
befinden und die Beteiligten durch ihnen fremde Umstände verunsichert
werden. Es besteht Unsicherheit darüber, ob und wie man mit anderen Men-
schen in Kontakt treten kann bzw. möchte. Erfahrungen von Ablehnung bei
Inter
aktionsversuchen verstärken die Unsicherheit gegenüber dem Fremden.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien