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Die Unsicherheit in Bezug auf das eigene Verhalten geht einher mit der
Angst vor den Gedanken und Meinungen der Anderen. Je nach Gestaltung der
Beziehung zwischen den Beteiligten kommt es zu respektvollen oder ent-
würdigenden Situationen im Umgang mit dem Fremden. Die einen können
sehen, die anderen werden gesehen, beobachtet oder benutzt; die einen fühlen
sich benutzt und beobachtet, die anderen freuen sich über die Aufmerksam-
keit, die ihnen durch das Gesehen-Werden zukommt.
Die Beteiligten leisten im fotografischen Spannungsfeld gewisse
Formen von Grenzarbeit. Dabei entwickeln sie vielfätige Gestaltungsformen,
durch die wiederum verschiedene Reflexionsinhalte hervorgebracht werden.
Es stellen sich Motivwahl, Perspektivenwechsel und die Wechselwirkung von
Form und Inhalt als wesentliche Gestaltungsformen heraus. Diese können
auch losgelöst vom fotografischen Spannungsfeld betrachtet werden:
Die Motivwahl besteht als Gestaltungsmöglichkeit in diversen alltägli-
chen Grenzsituationen, wenn man zu entscheiden hat, mit wem/was man in
Interaktion treten kann und möchte und mit wem/was eine Interaktion eher
vermieden werden muss/sollte und in welcher Form man sich selbst dabei
sichtbar macht und etwas von sich selbst preisgeben möchte. Die Fragen der
Motivwahl führen im fotografischen Spannungsfeld wie auch in diversen all-
täglichen Situationen immer wieder zur Frage, wer/was gesehen werden kann,
im Fokus steht bzw. ins Abseits rückt oder auch gerückt wird. Perspektiven-
wechsel wird zur alltäglichen Gestaltungsform, sobald eine Sache bewusst aus
verschiedenen Perspektiven dargestellt wird und die Wirkung verschiedener,
ungewöhnlicher, überraschender, angenehmer wie unangenehmer Blickwinkel
und damit auch Betrachtungsweisen ausgelotet werden kann. Die Möglichkeit
des Perspektivenwechsels kann so verschiedene Ansichten auf eine Sache
eröffnen, es besteht jedoch auch die Möglichkeit, bestimmte Ansichten zu ver-
meiden. Man kann sich dabei auf den Weg zu einem möglichst ganzheitlichen
Blick begeben oder umgekehrt die Konzentration auf gewisse Details setzen.
Es kann hinterfragt werden, auf welchen Achsen und in welcher Form Blick-
wechsel gefördert bzw. beschränkt werden können. Perspektivenwechsel
kann in diesem Sinne auch zur Wahrnehmung der Relevanz von Deutungs-
vielfalt bei vermeintlich „richtigen“ Antworten auf komplexe Fragestellungen
beitragen. Perspektivenwechsel auf der Handlungsebene fördert Perspektiven-
wechsel im Denken und umgekehrt. Die konstruktivistische Verfasstheit
von Bildern und Narrativen erlangt hierdurch Aufmerksamkeit. Das Wechsel-
verhältnis von Form und Inhalt kann als Möglichkeit für die Gestaltung von
Übersetzungsprozessen betrachtet werden. Es kann zum Ordnen der eigenen
Gedanken genutzt werden — und in weiterer Folge dazu, anderen Menschen
die eigenen Gedanken zu vermitteln und sie dabei je nach Bedarf zu leiten und
auch zu involvieren. Wird das Wechselverhältnis von Form und Inhalt als
Gestaltungsmöglichkeit genutzt, können bestehende Ambivalenzen in Grenz-
situationen thematisiert und dazu verschiedene Gedanken entwickelt werden.
Durch die Gestaltung von Interaktionsmöglichkeiten für die beteiligten
Menschen kann ein mehrdimensionaler Wahrnehmungs- und Aktionsraum
entstehen, in dem Betrachter_innen aufgefordert werden, mit Bildern und
Geschichten zu interagieren und Bestehendes durch ihr eigenes Handeln zu
verändern und so weiterzuentwickeln.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Title
- Generative Bildarbeit
- Subtitle
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Author
- Vera Brandner
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 276
- Keywords
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Category
- Medien