Page - 40 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
Image of the Page - 40 -
Text of the Page - 40 -
I.3.PhilologieundmoderateGeistesgeschichte–WaltherBrecht
amneugermanistischenLehrstuhl inWien1914–1926
DieBerufungWalther Brechts, der dasWiener neugermanistischeOrdi-
nariat zum Sommersemester 1914 übernahm, wurde, wenn nicht als
„Katastrophe“111, so doch zumindest als „Kompromiß“112 wahrgenom-
men.Tatsächlich entsprachBrecht keinemderKriterien, die bis 1912bei
Berufungen anderWienerGermanistik ausschlaggebendgewesenwaren:
ErkamnichtausÖsterreich,warnichtkatholisch,erhattenichtbeiScherer
oder einem seiner österreichischen Schüler und auch nicht inWien pro-
moviert.Darüber hinauswar er nicht für das neuere Fach habilitiert wie
seine drei Vorgänger Karl Tomaschek, Erich Schmidt und JakobMinor.
UndtrotzdemwurdeBrecht,der „alsöffentlichUnbekannter“nachWien
kam und bis heute als einer der „wenigst berühmt gewordenenGerma-
nisten“113der erstenHälftedes20. Jahrhunderts bezeichnetwerdenkann,
zu einem ausgleichenden Vermittler österreichischer Literatur, zu einem
Wissenschaftler, der die divergierenden methodischen Richtungen der
1910er und 1920er Jahre anzunähern trachtete, und zum ausgewiesenen
Förderer einer ganzenGeneration vonNeugermanisten.114
111 Karl Kraus: Die Katastrophe (1914). – Die öffentliche Aufregung, die Brechts
Berufung hervorrief, wurde nach einemArtikel StefanHocks vor allem von der
NeuenFreienPressedirigiert.Dort hieß es am10.März 1914: „DieUnterrichts-
verwaltung hat sich auch in diesem Falle über die deutlich genug geäußerten
WünscheundAnsichtendesProfessorenkollegiumsderphilosophischenFakultät
hinweggesetzt und beruft […]Walter Brecht, dessen Eignung für dieNachfolge
JakobMinors […]vonberufenerSeite inZweifelgezogenwordenist.“Hock:Die
Nachfolge JakobMinors (1914); [Anonym:]DieBesetzung der LehrkanzelMi-
nors (1914). – In der aggressiv antisemitischenReichspost konnteman einenTag
später Folgendes lesen: „Es lagen wohl besondere Gründe für die Unterrichts-
verwaltung vor, einen Ausländer zu wählen, nachdem im Inland hervorragende
Kräfte, wie z.B. Seuffert=Graz, sich finden. Das eine Gute hat die Berufung
jedenfalls, daß nicht etwa ein Semit fürGermanistik berufenwird.“ [Anonym:]
DerNachfolgerMinors inWien (1914).
112 Soz.B.HerbertCysarznoch1976überseinenLehrerWaltherBrecht:„Erwar[…]
inWienangetreten, alsKompromißkandidat amEndeharterFakultätszwisteund
langwieriger Verhandlungen“, viele hatten ihn, so Cysarz weiter, „gerade auf
Minors Lehrstuhl fehl am Platz gewähnt“. Cysarz: Vielfelderwirtschaft (1976),
S. 35.
113 Cysarz:Vielfelderwirtschaft (1976), S. 34.
114 ZuBrechtselbstgibteswenigSekundärliteratur;eineAusnahmeindieserHinsicht
stellt seine Freundschaft zuHugo vonHofmannsthal dar, über die bereits ver-
hältnismäßig viel geschrieben wurde. ZuWalther Brecht vgl. Erika Brecht: Er-
I. Die Verfasstheit derWiener
Germanistik40
back to the
book Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)"
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher