Page - 72 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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beanstandet. In denNachrufen hieß es entweder verständnisvoll von sei-
nemlangjährigenFreundCarl vonKraus, dass ihn „[d]ieFülleder an ihn
herandrängenden sonstigen Pflichten […] zu[r] Verwirklichung seiner
Pläne nicht kommen“257 ließ, oder süffisant von Josef Nadler, dassman
„das Opfer an Zeit und Arbeit, das ihm all [seine] Unternehmungen
auferlegten, […]mitwiegen [müsse], wennman gegenüber demäußeren
UmfangseineswissenschaftlichenLebenswerkesgerechtseinwill,wieman
esmuߓ258.
1925 erreichte Brecht nach Rudolf Unger nur den zweiten Platz in
Göttingen,259 zum Wintersemester 1926/27 wurde er jedoch Ungers
Nachfolger inBreslau.Dieweitweniger renommierteProfessur inBreslau
zog Brecht demWiener Ordinariat vor. An Carl von Kraus schrieb er
diesbezüglich imOktober 1926:
Mirwirdes furchtbar schwer, jetztvonWienwegzugehn,undvonÖsterreich,
woichsovielesUnersetzlichezurücklasse,undeineWirksamkeit aufzugeben,
wie sie wohl nur wenigen beschieden ist. Ihre Früchte sind immermehr in
Erscheinunggetreten,undwennes äußererZeichenbedurfthätte, hättendie
einfachen, herzlichen undmich herzlich beglückenden Kundgebungen von
Schülern aus allen Generationen, und auch Kollegen, 1924 und jetzt im
Abschiedssemester, auch einigeAbschiedsartikel inZeitungen,michdarüber
belehren können.Diese ganzeTätigkeit ruhte auf Ihnen, nicht nur weil Sie
mich ins Land gerufen haben.
Ich gebe sie auf und gehe im vollen Bewußtsein eines gefährlichen Ex-
periments ineinenüchterneGegend,eineglanzloseStadtundaneinerel[ativ]
engeHochschule, weil die fürmich selbst verbleibendeZeit, großenteils ge-
rade infolge der steigendenWirkung[,] die von der Lehrkanzel ausgeht[,]
immer geringerwirdunddie vorwiegendmündlicheTätigkeitmich, gelinde
gesagt, immerwenigerbefriedigt.Esistsehrmöglich,daßichnachdengroßen
Auditorien, an die ich jetzt so selbstverständlich gewöhnt bin, u. vor allem
nachderherrlichenAufnahmsfähigkeitderösterreichischenStudenten, sowie
nachderAtmosphäredesdeutschenSüdensdas größteHeimwehempfinden
werde,aberdasdarfkeineRollespielengegenüberdererkanntengeistigenund
sittlichenNotwendigkeit. Ich versuche,mir gar keine Illusionen zumachen
über Breslau, esmüßte auch nicht gerade Br. sein, es ist nur der sich gerade
bietendeOrt von der Art[,] daß ich hoffen kann[,]mich nicht ganz in dem
Maßder letztenJahredenAnforderungenAnderer, sovielerDissertanten,der
6 Privatdozenten, des Volksbildungsamtes, Bundesverlages pp. hingeben zu
müssen. In all solchenDingen habe ich reichlich soviel zu thun gehabt als
257 Kraus:WaltherBrecht [Nekrolog] (1950), S. 184.
258 Nadler:WaltherBrecht [Nekrolog] (1951), S. 382–383.
259 Roethe/Schröder: Regesten zumBriefwechsel (2000), Bd. 2, S. 870 (Brief von
EdwardSchröder anGustavRoethe vom25. September 1925).
I. Die Verfasstheit derWiener
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher