Page - 86 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
Image of the Page - 86 -
Text of the Page - 86 -
für immer zu verzichten.314DieHabilitiertenmussten trotzdem als un-
bezahlteDozentenweiter lehren, um ihreVenia Legendi unddie (immer
unwahrscheinlichere) Aussicht auf eineUniversitätskarriere nicht zu ver-
lieren.DamitwurdediePrivatdozentur,wieEduardCastle1921 feststellte,
„geradezu einPrivileg fürKapitalisten oderHungerkünstler“315.
Die finanzielle Schlechterstellung und die schwindendeWahrschein-
lichkeit einer akademischenKarriere führten zu einemmassivenPrestige-
verlust der Privatdozentur. Gleichzeitig war dieser Prestigeverlust – ge-
meinsammitderUnverzichtbarkeit derPrivatdozenten fürden laufenden
Lehrbetrieb – aber auchmitverantwortlich dafür, dass sich inden1920er
Jahren erstmals drei Frauen an der Wiener Germanistik habilitieren
konnten. Danach dauerte es fast dreißig Jahre bis erneut eineWissen-
schaftlerinamWienerGermanistikinstitutdieVeniaLegendierhielt.Eine
Privatdozentur, die keine Aussicht auf ein Ordinariat versprach, musste
nicht mehr verteidigt werden. Ordentliche Professorinnen wurden diese
Wissenschaftlerinnen inÖsterreich ohnehin nicht.
Paul Kluckhohn verließ dieWiener Universität 1931 nach nur acht
SemesternundnahmeinenRufandieUniversitätTübingenan.Wiezuvor
Walther Brecht war ihm die immense Arbeitsbelastung an der Wiener
Germanistik zuviel.316Hatte sichBrechtbei seinemWeggangnochgegen
Nadler als seinen Nachfolger ausgesprochen, so stand dessen Berufung
nachWiennunnichtsmehr imWege.DieFakultätskommissionentschied
sich für Josef Nadler undGüntherMüller auf dem ersten Platz, für Fer-
dinand Josef Schneider auf dem zweiten Platz und diskutierte Brechts
Schüler Herbert Cysarz, Heinz Kindermann und Franz Koch für den
drittenPlatz, ließdiesen schlussendlich aber frei.Vehement gegenNadler
tratEduardCastle in einemSeparatvotumauf, indemerden „Ausschluß
314 Vgl.Castle:DieLage derHochschullehrer (1926), S. 3.
315 Castle:DieNotderUniversitätWienunddiePrivatdozenten (1921),S.3; zit. n.
Meissl: Germanistik inÖsterreich (1981), S. 482. – Vgl. auchDenkschrift der
PrivatdozentenderUniversitätWienvom12.Jänner1919;UAW,Phil.Fak.,S29,
fol. 2: „Während früher auch Vermögenslose, die genug Mut und Idealismus
hatten, sich einzuschränken und anspruchslos zu leben, denBeruf desDozenten
erwählen konnten, wird es nunmehr nur Großkapitalisten möglich sein, die
akademische Laufbahnmit Aussicht auf Erfolg einzuschlagen. An die Stelle der
Auslese derTüchtigstenwirddieAuslese derReichsten treten […].“
316 Vgl.dieBriefevonWaltherBrechtanPaulKluckhohn;DLAMarbach,Bestände:
Paul Kluckhohn; Deutsche Vierteljahrsschrift. – Noch in einem Nachruf auf
Kluckhohn heißt es, dass KluckhohnWien verließ, da er sich „den sehr großen
Lehr- und Prüfungsverpflichtungen […] nicht gewachsen fühlte“.Meister: Paul
Kluckhohn [Nekrolog] (1960), S. 357.
I. Die Verfasstheit derWiener
Germanistik86
back to the
book Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)"
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher