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wahrung,dieaucheinklares InnenundAußendesakademischenBetriebs
definierte.DieseOrdnungderProfessorenfolge änderte sichgrundlegend,
als1912JakobMinor, InhaberderneugermanistischenProfessur, starb. In
den darauffolgenden äußerst konfliktreichen Verhandlungen um seine
Nachfolge entstand eine Art Patt-Situation zwischen Vertretern der phi-
lologisch orientiertenGermanistengeneration, die für dieWeiterführung
der bisherigen Berufungskriterien eintrat, undVertreternmoderner wis-
senschaftlicherStrömungen,diedie aufÖsterreicherundScherer-Schüler
konzentriertenAuswahlmechanismen zu durchbrechen suchten.Darüber
hinaus wurden von einzelnen, am Auswahlprozess beteiligten Wissen-
schaftlernmitNachdruck eigene Interessen vertreten, sodass trotz zäher,
zwei Jahre dauernder Auseinandersetzungen dem Ministerium kein
mehrheitliches Ergebnis übermittelt werden konnte. Schließlich wurde
1914 ein für Fakultät und publizistische Öffentlichkeit überraschender
Kompromisskandidat nach Wien berufen: der deutsche Geistesge-
schichtlerWaltherBrecht.Dabei handelte es sich umeineEntscheidung,
die innerhalb derUniversität und vonderTagespresse, die sichmassiv in
denAuswahlprozess einschaltete, als Katastrophe undBankrotterklärung
derWissenschaftwahrgenommenwurde.
Tatsächlich beendete die AmtszeitWalther Brechts, der bis 1926 die
neugermanistische Professur inWien bekleidete, einen Schulzusammen-
hang, in dem unter Berufung auf Wilhelm Scherer eine philologisch
orientierte und auf Österreich konzentrierte Wissenschaftsauffassung
vertreten wurde.Walther Brecht selbst hatte, wie die Analyse seiner Pu-
blikationenzeigte, inBezugaufdenWiderstreitzwischenPositivismusund
Geistesgeschichte kein klar definiertes eigenes wissenschaftliches Profil.
Vielmehr lässt er sich als Integrations- undÜbergangsfigur in einer Zeit
scharfer innerfachlicher Positions- und Generationskonflikte begreifen.
Gerade seineOffenheit,wasmethodischeAusrichtungenundthematische
Schwerpunktsetzungen anging, führte aber auch dazu, dass aus seinen
Lehrveranstaltungen eine große Zahl späterer Universitätsgermanisten
hervorging, die dann sehr unterschiedliche wissenschaftliche Schwer-
punkte setzte. Nicht zuletzt ermöglichte Brechts wissenschaftliche und
habituelleOffenheit denn auch die imdeutschen Sprachraum zeitgenös-
sisch singuläre Integration vonFrauen in dieUniversitätsgermanistik.
Hinzu kam, dass es in der Zeit von Brechts Professur zu einer zu-
nehmendenDisproportionvonLehrendenundLernendenkam:Während
sich die Zahl der Studierenden seit der Jahrhundertwendemehr als ver-
sechsfacht hatte, blieb dieAnzahl der Professuren nahezu gleich.Das be-
deutete zumeinen,dassdieAufrechterhaltungdes laufendenLehrbetriebs
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Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Title
- Germanistik in Wien
- Subtitle
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Author
- Elisabeth Grabenweger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 290
- Keywords
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Category
- Lehrbücher