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Eveline G. Bouwers
Glaube und Gewalt
Ein Beziehungsgeflecht auf dem Prüfstand
Anfang 1875 druckte die Zeitung La Voz de México eine Petition ab, worin
sich die Unterzeichner dazu bereiterklärten, »all unser Blut zu vergießen,
mit Gottes Hilfe«, um die Implementierung der Reformgesetze der liberalen
Regierung von Präsident Sebastián Lerdo de Tejada zu verhindern1. Neben
einer Reihe von Säkularisierungsmaßnahmen sahen diese Gesetze einen
von allen Staatsbeamten zu leistenden Treueschwur auf die Verfassung von
1857 vor. Katholische Laien taten sich damit schwer, doch das mexikanische
Episkopat, das die staatliche Unterstützung für die Zentralisierung des Kir-
chenlebens begrüßte, warnte vor gewaltsamem Widerstand. Ihrem Appell
wurde nur begrenzt gefolgt. Besonders in Regionen wie dem Bundesstaat
Michoacán, wo die religiöse Kultur das Produkt einer synkretistischen Ver-
bindung von römisch-katholischen und indigenen Riten darstellte, reagier-
ten die Menschen aus Angst um den Erhalt ihrer lokalen religiösen Praktiken
mit teils mörderischer Gewalt. Während im Falle Mexicos Differenzen um
den Stellenwert von Religion in der modernen Gesellschaft Gewalt hervor-
brachten, wurden anderswo Gewaltakte nachträglich mit einer religiösen
Deutung versehen. Ein Beispiel bietet die Zerstörung der deutschen Benedik-
tinermission in Pugu, nahe Daressalam an der ostafrikanischen Küste, bei
der im Januar 1889 gleich mehrere Missionare und Missionarinnen ermordet
oder entführt wurden. Obwohl die Gewalt in Verbindung mit dem Macht-
streit zwischen der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft einerseits und
den im Küstenland dominierenden arabischen und Swahili-Händlern ande-
rerseits verstanden werden muss, wertete Reichskanzler Otto von Bismarck
den Angriff als eine Art »muslimische Attacke« gegen die »christliche Zivili-
sierungsmission« – eine Schlussfolgerung, die zwar nicht unumstritten war,
Bismarck aber dazu verhalf, den Übergang zum staatlichen Kolonialismus
vor dem Reichstag in Berlin zu legitimieren2.
1 Siehe das Kapitel von Brian A. Stauffer in diesem Band. Das Zitat kommt aus dem
»protesta de los vecinos de Zamora«, abgedruckt in: La Voz de México, 9. Januar 1875.
2 Siehe das Kapitel von Richard Hölzl in diesem Band.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918