Page - 62 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
Image of the Page - 62 -
Text of the Page - 62 -
62 Philip Dwyer
Über diesen Artikel ist schon viel geschrieben worden74. Es war gerade die
Religionsfreiheit, an der sich die Kirche störte, selbst wenn, worauf Histori-
ker immer wieder hingewiesen haben, ihre Ausübung denkbar vage formu-
liert war und der »öffentlichen Ordnung« unterlag. Kaum war die Erklärung
veröffentlicht worden, wurde diese Klausel auch schon dahingehend ausge-
legt, dass die katholische Kirche sich in allem dem Staat unterzuordnen habe,
wodurch ein Graben zwischen Gläubigen und Revolutionären entstand, der
zu den wesentlichen Gründen des Bürgerkriegs in der Vendée gehörte. Hie-
raus erklärt sich auch, zumindest teilweise, die Einstellung der republikani-
schen Revolutionäre den Christen außerhalb Frankreichs gegenüber. Zwar
wandelte sich diese Einstellung im Lauf des 19. Jahrhunderts, doch blieb bei
religiösen Angelegenheiten die Gewaltanwendung durch den Staat ein Kern-
element der revolutionären Auffassung von öffentlicher Ordnung. Es ist z.B.
bemerkenswert, dass der französische Staat nach dem Konkordat ein Reli-
gionsministerium samt »police des cultes« einrichtete, denen die Kontrolle
der kirchlichen Hierarchie und Schriften überantwortet war. Der Auftrag
dieser »Religionspolizei« war im wesentlichen säkularer Art75. Gelegentlich
verhafteten und verurteilten sie Priester und Prälaten, die es sich mit dem
Staat verdorben hatten.
Es fällt auf, dass die Franzosen, allem Missmut über ihren Antiklerika-
lismus zum Trotz, die Anziehungskraft ihrer revolutionären Ideale und des
Säkularismus auf die breite Bevölkerung nie in Zweifel gezogen zu haben
schienen. Die Franzosen, mit den Ideen der Aufklärung aufgewachsen und
in revolutionären Idealen geschult, standen der Religion grundsätzlich ableh-
nend gegenüber, sahen sie doch in ihr bloß Unwissenheit, Gewalt und Aber-
glaube76. Ihre Unbeugsamkeit der Religion gegenüber, gerade wo sie sich mit
volkstümlichen Gebräuchen und altertümlichen Sitten vermengte, kompro-
mittierte nur eine etwaige Anziehungskraft, welche die revolutionären Ideale
gehabt haben mögen – und das in ganz Europa, wohin die französischen
Armeen auch gelangten. Umgekehrt verstanden die französischen Eliten nie
das volle Ausmaß, in welchem nicht nur die Kirche, sondern auch konser-
vative Regime auf Rückhalt im Volk gebaut waren. Es fällt im Nachhinein
schwer, diese Ära nicht als vom Gegensatz zwischen Konservatismus und
74 Siehe auch Claude Langlois, Religion, culte ou opinion religieuse. La politique des
révolutionnaires, in: Revue Française de Sociologie 30 (1989), S. 471–496; Jonathan
Israel, Revolutionary Ideas. An Intellectual History of the French Revolution from
the Rights of Man to Robespierre, Princeton 2014, S. 180–203.
75 Vgl. Roger Price, The Church and the State in France, 1789–1870. »Fear of God Is the
Basis of Social Order«, Basingstoke 2017, S. 23.
76 Vgl. David Andress, »A Ferocious and Misled Multitude«. Elite Perceptions of Popu-
lar Action from Rousseau to Robespierre, in: Malcolm Crook u.a. (Hg.), Enlight-
enment and Revolution. Essays in Honour of Norman Hampson, Aldershot 2004,
S. 169–186.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918