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79Von
Gewalt und Märtyrertum
Zeichnung veröffentlicht, welche die katholische Wahrnehmung der Bege-
benheiten widergibt (siehe Abbildung). Oben, am liberalen Himmel, steht
der Fisch »Levaert«, darunter Fahnen worin ebenfalls Fischköpfe und zwei
Bajonette eingearbeitet sind – möglicherweise ein Verweis auf die stinkende
und brutale Politik des verhassten Gouverneurs. Darunter ist die Peperst-
raat abgebildet mit links der Lehrwerkstatt und weiter rechts dem Haus der
Mutter des Bürgermeisters sowie dem Kirchturm. Vor der Lehrwerkstatt
befinden sich Frauen und Kleinkinder, die beten und trauern. Die rechte
Bildhälfte zeigt ein Gedränge von Männern und Frauen unterschiedlichs-
ter sozialer Herkunft – Arbeiter, Matrosen und Dienstmädchen, aber auch
vornehm gekleidete Personen –, was die katholische Bemühung zeigt, den
Protest als gesellschaftsübergreifend darzustellen. Vorne rechts eilen zwei
Männer mit einer Trage herbei, um die Opfer zu versorgen, die in der Mitte
auf dem Boden liegen: vorwärtsgewand der verstorbene Couckuyt; dahinter
Duyck, der mit einem Bajonett aufgespießt zu werden droht; dazwischen der
Rauch der Schüsse. In der Türöffnung der Lehrwerkstatt stehen der zweite
Gendarm, der sein Bajonett auf Duyck richtet, und Spezialkommissar Bouez,
der vergeblich zur Ruhe mahnt. Doch der Held des Geschehens ist Vikar
Iserbyt, der in der Mitte die Menge zur Besonnenheit auffordert. Die Kirche
wird so als Garant für den öffentlichen Frieden präsentiert – ein Bild, das
noch verstärkt wird, indem Iserbyt eine Bibel festhält, womit die Gebote Got-
tes visuell über das Staatsgesetz gestellt werden.
Die Zeichnung vermittelt die Idee wahlloser Staatsaggression und katho-
lischen Märtyrertums. Doch dieser visuelle Befreiungsschlag von liberalen
Anschuldigungen, die Protestierenden hätten sich mit ihrem gewaltsamen
Protest die Polizeikugel selbst eingeholt, widerspricht dem Tathergang. Tat-
sächlich erfolgte die Schießerei im Innern des Hauses und war das Resultat
von Panik, nachdem eine aufgebrachte Männergruppe, die kurz zuvor noch
mit Steinen und anderen Objekten geworfen hatte, eingedrungen war. Auch
vom Hineinstechen mit einem Bajonett war nie die Rede. Das änderte aller-
dings nichts an den zwei Lesarten der Heuler Geschehnisse –Staatsgewalt
versus gewaltsamer katholischer Protestakt – welche die Zeitungskolumnen
dominierten. Für die ultramontane Genter Le Bien Public waren Couckuyt
und Duyck »Opfer der freimaurerischen Wut«, die aus Versehen in das Haus
geraten waren44. Die Gendarmen kamen gut davon, hatten sie nur Befehle
anderer ausgeführt. Der eigentliche »Mörder« saß im Staatsministerium, das
den »schrecklichen Konflikt« initiiert und die Belgier dazu bewogen habe
»sich gegenseitig zu hassen«; somit war Pierre Van Humbeeck »der Autor
dieses moralischen Bürgerkrieges, der […] de[n] einen Bürger gegen den
anderen zu bewaffnen [gedachte]«: eine Brudermordsgeschichte wie bei
44 Le Bien Public, 2. Oktober 1880.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918