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94 Brian A. Stauffer
auf Bezirksebene enthoben ihn folglich seines Amtes. Dennoch, wie er beim
Bischof klagte, seien viele Menschen vor Ort der Ansicht, er habe »protestiert,
und zwar auf ketzerische Weise«. Farfán schrieb gar einen Leserbrief an die
Redaktion einer im ganzen Bundesstaat verbreiteten konservativen Zeitung,
um sich zu rechtfertigen, doch lebte er weiterhin in Furcht vor den Rebellen3.
Was sollte aber ein derart loyaler Katholik von Rebellen, die zur Verteidi-
gung der Kirche zu den Waffen gegriffen hatten, zu befürchten haben?
Am Schicksal Farfáns zeigt sich die Komplexität des religionero-Aufstands
in Mexiko, eines Konflikts, der
– so er denn überhaupt zur Kenntnis genom-
men wird – zumeist als schlichter Kompetenzstreit zwischen einem säku-
larisierenden Staat und einer unbeugsamen Kirche verstanden wird. In der
liberalen mexikanischen Geschichtsschreibung erscheinen die religioneros
als bloße Fußsoldaten einer rückwärtsgewandten Kirche und ihre Revolte
als letztes Aufbäumen reaktionärer Gewalt, deren Versuch, die säkulare
Ordnung zurückzudrängen, letztlich zum Scheitern verurteilt war4. Doch
verzerrt eine solche Sicht bedeutende Aspekte der religioneros. Zunächst ist
zu bedenken, dass Mexiko im Jahr 1874 ein beinahe ausschließlich katholi-
sches Land war, und dem Katholizismus kam im Leben der großen Mehr-
heit seiner Bürger grundlegende Bedeutung zu. Die verfassungsmäßige
Stellung der katholischen Kirche als alleiniger Religion des Landes war erst
1862 gekippt worden, und die ersten protestantischen Missionare, die 1872
ins Land gekommen waren, konnten zunächst kaum Erfolge für sich ver-
buchen5. Opfer prokirchlicher Gewalt waren also geradezu unvermeidlich
andere Katholiken – mitunter gar fromme Verbündete des Klerus, wie im
Fall Farfáns zu sehen. Viele konservative Laien verweigerten sich der Sache
der religioneros und zogen es stattdessen vor, dem staatlich verordneten
Antiklerikalismus auf weniger aggressive Weise die Stirn zu bieten – etwa,
indem sie sich einer Sodalität anschlossen oder die Gründung neuer katho-
lischer Schulen vorantrieben. Katholischer Widerstand gegen den Antikle-
rikalismus äußerte sich also keineswegs nur als Rebellion. Auch der Klerus
selbst lehnte gewaltsame Mittel gegen die antiklerikalen Maßnahmen, die
3 Encarnación Farfán, Coalcomán, an den Diözesansekretär, Zamora, 18.
Januar 1874,
ADZ, DGPD 33.
4 Siehe auch Francisco Cosmes, Historia general de México, Bd. 20, Mexico-Stadt u.a.
1902; Daniel Cosío Villegas, Historia moderna de México. La República Restau-
rada, La vida política. Mexiko-Stadt 1955. Eine differenziertere Betrachtung des
Aufstandes bietet die Dissertation von Ulises Iñiguez Mendoza, auch wenn dort der
Einfluss der Hierarchie auf die katholische Mobilisierung etwas überschätzt wird;
siehe auch Ulises Iñiguez Mendoza, ¡Viva la religión y mueran los protestantes!
Religioneros, catolicismo, y liberalismo, 1873–1876, unveröffentlichte Dissertation,
El Colegio de Michoacán 2015.
5 Siehe auch Jean Pierre Bastian, Los disidentes. Sociedades protestantes y revolución
en México, 1872–1911, Mexiko-Stadt 1989.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918