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96 Brian A. Stauffer
Reformen den Anstoß zu neuen Ansätzen in Glaube und Gesellschaft: zu
einem »neuen Katholizismus«, der eine sehr emotionale Marienverehrung
mit modernen Organisationsstrukturen und der aus Rom von Pius IX. vor-
gegebenen, stramm antiliberalen Linie verband9. Wenn solcher Ultramon-
tanismus nach der Jahrhundertmitte in höheren Kreisen der Amtskirche an
Einfluss gewann, dann ist damit noch nichts über das Land gesagt, d.h. über
die Dörfer mit vorwiegend indigener Bevölkerung, in denen zumeist die syn-
kretistische Religiosität der spanischen Kolonialzeit vorherrschend blieb10.
So war es auch in Michoacán, dem Staat, von dem die Revolte der religioneros
ausging und der ein wichtiges Ziel der Romanisierungsstrategie seitens der
Amtskirche war.
Historisch eine Hochburg des Katholizismus, hatten sich in Michoacán
eine Vielfalt von Gemeinden ausgebildet, von denen manche, insbeson-
dere in den von Mestizen dominierten Städten, stark klerikal ausgerichtet
waren, während sich in den Dörfern der indigenen Purépecha und unter
Afro-Mestizen Gemeinschaften befanden, die einen weniger orthodoxen,
eher autonomen Katholizismus praktizierten11. In Anbetracht dieser Viel-
falt und der damit einhergehenden internen Spannungen konnte die Kirche
kaum eine geschlossene Front gegen den staatlich verordneten Antiklerika-
lismus bilden. Vielmehr wird dieser Beitrag zeigen, wie der mexikanische
Ultramontanismus die Entstehung einer eher nach innen gerichteten Spielart
von Religion beförderte sowie – worin eine gewisse Ironie liegt – eine eher
versöhnliche Haltung zum Staat, die Gewalt überflüssig, ja kontraproduktiv
machte. Will man die religioneros nun als Verkörperung katholischer Gewalt
betrachten, dann muss man zugleich im Blick behalten, dass ihre Gewalt
sich auf eine bestimmte Art des volkstümlichen Katholizismus bezog, die im
Widerspruch sowohl zum staatlichen Säkularismus als auch zum modernen
Ultramontanismus stand.
9 Vgl. Christopher Clark, The New Catholicism and the European Culture Wars,
in: Ders. / Wolfram Kaiser (Hg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in
Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003, S. 11–46.
10 Vgl. Brian A. Stauffer, The Routes of Intransigence. Mexico’ s »Spiritual Pilgri-
mage« of 1874 and the Globalization of Ultramontane Catholicism, in: The Ameri-
cas. A Quarterly Review of Latin American History 75 (2018), H. 2, S. 291–324.
11 Vgl. Cecilia Bautista García, Entre México y Roma. La consolidación de un
proyecto de educación clerical a fines del siglo
XIX, in: Yves Solís / Franco Savarino
(Hg.), Catolicismo y formación del estado nacional en la Península Ibérica, América
Latina, e Italia, siglos XIX–XX, Mexiko-Stadt 2017, S. 89–110; siehe auch Matthew
Butler, Popular Piety and Political Identity in Mexico’ s Cristero Rebellion. Micho-
acán, 1927–29, Oxford 2004.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918