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98 Brian A. Stauffer
nicht nur die Macht des Klerus, sondern wurden auch als Frontalangriff auf
die Religiösität der einfachen Leute angesehen. Das Verbot öffentlicher Reli-
gionsausübung traf in besonderem Maße das Verhältnis der traditionelle-
ren (ländlichen, indigenen und plebejischen) Gemeinden zum Göttlichen,
indem sie ihnen die Prozessionen, Wallfahrten und Heiligenfeste verbot, die
in der volkstümlichen Religion eine so große Rolle spielten. Die Möglich-
keit protestantischer Unterwanderung bedrohte die dörfliche Solidarität,
die eine solche kollektive Festkultur erst möglich machte. Die Ordensauf-
lösungen betrafen auch die »Töchter der christlichen Liebe«, Vinzentinerin-
nen genannt, denen in einem Großteil des Landes die Krankenpflege oblag.
Mindestens ebenso heikel war, dass die Regierung Lerdo durch ihr Beharren
auf einem protesta die Staatsbediensteten für diese Angriffe mitverantwort-
lich machte, indem sie vor die Alternative gestellt wurden, die Verfassung
durchzusetzen oder ihre Posten zu verlieren. Kurzum: Was die Regierung
als »Vollendung« einer fehlerhaften Verfassung feierte, wurde im Land als
tiefgreifende religiöse Krise wahrgenommen14.
Es überrascht deshalb kaum, dass die Erhebung der Reformgesetze in
den Verfassungsrang Ende 1873 eine Welle des Unmutes in der Bevölkerung
lostrat. Der Klerus verurteilte die Gesetze lautstark und verbot den Gläubi-
gen unter Androhung der Exkommunikation den Umgang mit verstaatlich-
tem Kirchengut, den Gebrauch des zivilen Personenstandsregisters und das
Ablegen des protesta. Katholische Gruppen machten ihrem Zorn in Briefen
Luft, in denen der Kongress zu einer Kursänderung aufgerufen wurde. Dut-
zende neugewählte Zivilbeamte verzichteten auf ihre Posten, was zur Folge
hatte, dass die Verwaltungen auf Staats- und Bezirksebene diese Posten mit
ernannten Beamten statt mit gewählten Mandatsträgern besetzten. Andere
Katholiken griffen zur Waffe, folgten dem Schlachtruf »Tod den protestantes!
Es lebe die Religion!« und attackierten Beamte der Zivilverwaltung15.
Die ersten Anzeichen der Revolte bildeten kleine, spontane Ausschreitun-
gen, oft in indigenen Gemeinden, in den Staaten México, Michoacán und
Jalisco. In Zinacantepec im Staat México plünderten im November 1873
»unzählige« Randalierer Amtsstuben und töteten bis auf einen alle Beamten,
die anstelle der gewählten Vertreter, die den protesta nicht hatten ablegen
wollen, von der Bezirksverwaltung eingesetzt worden waren16. Im Dezember
14 Zur volkstümlichen Religion im Mexiko des 19. Jahrhunderts siehe auch William
B. Taylor, Shrines and Miraculous Images. Religious Life in Mexico Before the
Reforma, Albuquerque 2011; Edward Wright-Ríos, Revolutions in Mexican Catho-
licism. Reform and Revelation in Oaxaca, 1887–1934, Durham NC 2009; Terry
Rugeley, Of Wonders and Wise Men. Religion and Popular Cultures in Southeast
Mexico, 1800–1876, Austin 2001.
15 Vgl. Stauffer, Victory on Earth, Kap. 1.
16 Vgl. T. G. Powell, Los liberales, el campesinado indígena, y los problemas agrarios
durante la Reforma, Historia Mexicana 21 (1972), H. 4, S. 671f.; Romana Falcón,
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918