Page - 99 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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99Katholischer
Pluralismus und die Gewalt der religioneros
erhoben sich 30 indigene Dorfbewohner in Patamban (Michoacán) gegen
Beamte, die den protesta geschworen hatten, und versuchten, die Türen der
Gemeindeverwaltung einzuschlagen17. Diese Krawalle konnten rasch unter-
drückt werden, doch kam es binnen weniger Wochen in anderen Gegenden
der mittel-westlichen Region Mexikos zu ähnlichen Ausschreitungen.
Regierungsbeamte und liberale Journalisten taten die ersten Ausschreitun-
gen der religioneros als das Werk einiger weniger Verblendeter und Fanatiker
ab. Allerdings ließ sich eine Welle planvollerer Aufstände, die im Frühjahr
1874 über den Staat Michoacán rollte, nicht mehr ohne Weiteres ignorieren.
Diesen Aufständen ging oft ein pronunciamiento voran, eine Besonderheit
der Politik »von unten« im Mexiko des 19.
Jahrhunderts: In schriftlicher oder
mündlicher Form wurde die Absicht kundgetan, sich aufgrund spezifischer
Missstände gegen die Regierung zu erheben18. Unter neuen Anführern, die
zumeist der ländlichen Mittelschicht (Handwerkern, freien Kleinbauern,
indigenen Führungspersönlichkeiten) entstammten, griffen religioneros in
Banden von einer Handvoll oder einem Dutzend Mann örtliche Funktionäre
an, überfielen und brandschatzten Behörden, und plünderten mitunter die
Wohnungen vermeintlicher protestantes19. Wie schon frühere Ausschreitun-
gen hatten auch diese zum Ziel, die Regierung vor Ort zu lähmen, indem
man ihr das Personal abspenstig machte.
Bereits im Sommer 1874 hatten sich die Banden weiter organsiert und über
den Staat Michoacán ausgebreitet, der alsbald zum Schwerpunkt des religi-
onero-Aufstands wurde. Der Staat Michoacán war historisch eine Bastion
des Katholizismus, doch waren in der Reforma-Ära auch starke liberale Strö-
mungen aktiv gewesen, und die dortige liberale Regierung strebte nach 1873
eine besonders rigorose Durchsetzung der Reformgesetzgebung an. Verbun-
den mit den Spannungen, die von den Reformbemühungen der Kirche selbst
ausgingen (und von denen noch die Rede sein wird), machte dies den Staat
Michoacán zu einem regelrechten Pulverfass. Die Regierung setzte sowohl
reguläre Truppen als auch örtliche Freiwilligenverbände ein, doch die Rebel-
len mit ihrer Guerillataktik waren schwerlich dingfest zu machen. Kein Tag
verging ohne Nachricht von neuen Rebellenbanden, die sich irgendwo im
Staat gebildet hatten20.
El estado liberal ante las rebeliones populares. Mexico, 1867–1876, Historia Mexi-
cana 49 (2005), H. 4, S. 973–1048, hier S. 994f., 1021–1024.
17 El Progresista, 25. Dezember 1873; El Pájaro Verde, 5. Januar 1874.
18 Siehe auch Will Fowler (Hg.), Forceful Negotiations. The Origins of the Pronuncia-
miento in Nineteenth-Century Mexico, Lincoln NE 2011.
19 Präfekt von Coalcomán an den Innenminister, Morelia, 11.
November 1873, Archivo
Histórico Casa de Morelos (Morelia, Michoacán; im Folgenden AHCM), Gobierno
del Estado de Michoacán, Secretaría de Gobierno, Policía y Guerra, Aprehensiones,
caja 27, exp. 13; El Progresista, 14. Oktober 1875, 9. November 1876.
20 Vgl. Stauffer, Victory on Earth, Kap. 1.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918