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111Katholischer
Pluralismus und die Gewalt der religioneros
propagiert wurden, größtenteils ab. Ihre eigene Religiosität zeichnete sich
zuvorderst durch die Immanenz des Göttlichen aus, das in irdischen Dingen
und Landschaften wohnte und wo Heilige sich vor Ort niederließen, um die
Sache der Bewohner vor Gott zu vertreten. Diese Beziehungen zu geheilig-
ten Fürsprechern, die ihre Grundlagen in den Missionen der Bettelorden des
16. Jahrhunderts hatten, waren in hohem Maße kollektiv und lokalistisch
geprägt und wurden durch häufige öffentliche Feierlichkeiten und andere
nach außen gewandte Andachtsformen rituell gepflegt. Noch im 19. Jahr-
hundert organisierte sich die volkstümliche Religion häufig in Dorfgemein-
schaften, ethnisch gegliederten Bruderschaften oder Handwerkerzünften. In
vielen indigenen Gemeinden Mexikos gab es überdies gemeinsam bestellte
»Heiligenäcker«, aus deren Ertrag sich jährliche Feierlichkeiten zu Ehren der
Lokalheiligen finanzierten61. Die sehr engen Bande, welche mexikanische
Gemeinden mit ihren himmlischen Beschützern pflegten, konnten ohne die
öffentlich gelebte Religion nicht aufrechterhalten werden.
Spannungen in Bezug auf die Religionsausübung spielten eine wichtige
Rolle beim ersten Ausbruch der Gewalt in Michoacán, wo die politische
Führung sich bei der Umsetzung der Reformgesetze eifrig gezeigt hatte.
Nach 1873 hatte das Amt des Gouverneurs Anträge auf Ausnahmen von den
Gesetzen wiederholt abgelehnt und Priester vielfach angezeigt, weil sie etwa
ihre Amtstracht in der Öffentlichkeit getragen, Feierlichkeiten außerhalb der
Kirchenbauten geleitet oder den Vorschriften des Zivilregisters zuwiderge-
handelt hatten62. Auch Laien wurden nicht immer verschont. Im Juni 1874
verklagte die Staatsregierung den Indigenenführer von Nurio, der Prozessi-
onen in der Karwoche genehmigt hatte63. Im Bezirk Zinapécuaro ließ Prä-
fekt Jesús Corral 32 Angehörige einer Bruderschaft festnehmen, weil sie drei
Bildnisse in einer Prozession umhergetragen hatten. Solchem »Fanatismus«,
erklärte er, sei vorzubeugen64.
Es gab mehrere Fälle, in denen Versuche, religiöse Handlungen in der
Öffentlichkeit zu unterbinden, oder in denen der Anschein entstand, beliebte
Priester würden angriffen, zu Unruhen führten. So kam es etwa im April
1874 zu Ausschreitungen in Angangueo, als der Präfekt von Zitácuaro ver-
suchte, eine Pilgergruppe, die zum Heiligtum Atotonilco unterwegs war,
festnehmen zu lassen65. Der schwere religionero-Aufstand von Sahuayo brach
61 Siehe auch Stauffer, Victory on Earth; Brian Larkin, The Very Nature of God.
Baroque Catholicism and Religious Reform in Bourbon Mexico City, Albuquerque
2010.
62 Vgl. Stauffer, Victory on Earth, Kap. 1.
63 Innenminister, Morelia, an den Präfekten von Uruapan, 8. Juni 1874, AGHPEM,
Secretaria de Gobierno / Gobernación / Religión, caja 1, exp. 13.
64 Jesús Corral, Zinapécuaro, an den Innenminister, Morelia, 26. Februar 1875,
AGHPEM, Guerra y Ejército, caja 2, exp. 27.
65 El Progresista, 2. April 1874.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918