Page - 127 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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127Gewalt
unter ländlichen Katholiken in der späten Habsburgermonarchie
Nachdem der Bischof Don Požar entfernt hatte, wurden die sonntäglichen
Messen in Ricmanje praktisch von niemandem mehr besucht. Als etwa am
10.
Februar 1903 eine alte Frau als einzige an dem von Don Krančič in lateini-
scher Sprache zelebrierten Gottesdienst teilnahm, wurde sie nach der Messe
in der Straße von anderen Frauen, die vor der Kirche auf sie gewartet hat-
ten, als »Hure« beschimpft und mit Steinen angegriffen55. Es kam auch vor,
dass während der Messe Fäkalien in die Kirche geworfen wurden56. Auf der
Straße sei Don Krančič von Dorfkindern mehrmals verfolgt und mit Steinen
beworfen worden57. Wenn die Kinder überhaupt in die Kirche gingen, dann
nur um sich über den Priester lustig zu machen58. Als im Juni 1903 Pilger aus
dem slowenischsprachigen Triestiner Vorort Sčedna / Servola nach Ricmanje
kamen, wurden die angereisten Frauen von den Dorfkindern beschimpft.
Die Männer, die nicht in die Kirche, sondern in die Kneipen gingen, wurden
aber in Ruhe gelassen59.
Obwohl der Heilige Stuhl einen Übertritt in den griechisch-katholischen
Ritus wegen der Angst vor Verbreitung der Orthodoxie verboten hatte,
führte eben dieses Verbot zur weiteren Entfremdung zwischen dem Dorf und
der römisch-katholischen Kirche: Im April 1903 versuchten einige Dorfbe-
wohner beim serbisch-orthodoxen Bischof im dalmatinischen Zadar / Zara
zu erreichen, in die Orthodoxie, die sprachlich den slowenischen Einwoh-
nern näher stand, übernommen zu werden. Der serbische Bischof lehnte die
Anfrage aber ab, wohl im Interesse eines interkonfessionellen Friedens inner-
halb der Habsburgermonarchie60. Die Dorfbewohner, die zuvor die römisch-
katholische Kirche verlassen hatten, konnten bis Sommer 1903 weder einen
Übertritt in den griechisch-katholischen Ritus noch eine Übernahme durch
die serbisch-orthodoxe Kirche erstreiten.
Schon am Jahresende meldeten weitere Dorfbewohner aus Ricmanje
und Log ihren Austritt aus der römisch-katholischen Kirche an. Fast alle
Bewohner rechtfertigten diesen Schritt mit dem Wunsch, Gottesdienste in
der eigenen Muttersprache zu hören. Wie etwa Marija Žuljan sagte: »Ich will
den eigenen Gott in der eigenen Sprache anbeten«61. Außer der verwende-
ten Sprache erkannten aber die Dorfbewohner weiterhin keinen Unterschied
55 Bericht des Landes-Gendarmarie-Commandos von Boljunec (12. Februar 1903), in:
AST, Luogotenenza, AP, b. 265, fasc. 4.1.5, 1903 / 396.
56 Brief von Don Krančič an den Bischof Nagl (30.
März 1903), in: ADT, GO, 1903 / 1088.
57 Bericht der Bezirkshauptmannschaft von Koper / Capodistria an die Triestiner Statt-
halterei (16. Mai 1903), in: AST, Luogotenenza, AP, b. 265, fasc. 4.1.5, 1903 / 912.
58 Brief von Don Krančič an den Bischof Nagl (30.
März 1903), in: ADT, GO, 1903 / 1088.
59 Bericht des Landes-Gendarmarie-Commandos von Boljunec (6. Juni 1903), in: AST,
Luogotenenza, AP, b. 265, fasc. 4.1.5, 1903 / 1224.
60 Bericht der Bezirkshauptmannschaft von Zadar / Zara an die Triestiner Statthalterei
(2. April 1903), in: AST, Luogotenenza, AP, b. 265, fasc. 4.1.5, 1903 / 753.
61 Protokoll (29. Januar 1903), in: AST, C.d. Capodistria, Culto, b. 170, fol. 70.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918