Page - 163 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
Image of the Page - 163 -
Text of the Page - 163 -
Tim Buchen
Kollektive Gewalt und die religiöse Politisierung
von Bauern in der habsburgischen Peripherie
»Rabatz« und »antisemitische Exzesse« in Westgalizien, 1846–1898
Im multiethnischen Galizien, dem größten Kronland der Habsburger
monarchie, verübten im 19. Jahrhundert gleich zweimal jeweils mehrere
tausend römisch
katholische Bauern und Landarbeiter physische Gewalt an
Gruppen, die für sie soziale und religiöse Antagonisten repräsentierten. Der
sogenannte »Rabatz« von 1846 richtete sich gegen christliche Elite, Adlige,
Gutsverwalter und Priester und endete vielfach tödlich1. Dahingegen kam es
bei den »Exzessen« von 1898 zu Übergriffen gegen Juden, vor allem Händler
und Schankwirte; sie verliefen selten tödlich und nur dort, wo das habsbur
gische Militär als dritte Partei bei der Unterbindung der Ausschreitungen
widerständige Gewalttäter erschoss2. Eine solche Gewalt mag erstaunen, gilt
Galizien doch häufig als Beispiel für eine weitgehend friedliche multieth
nische Koexistenz3. Zu dieser Sichtweise haben literarische Verklärungen
im Rückblick, insbesondere vor den traumatischen Erfahrungen des Ersten
und Zweiten Weltkriegs, entscheidend beigetragen. Im Vergleich mit dem
benachbarten Zarenreich war Galizien tatsächlich ein sicherer Ort, insbe
sondere für Juden. Die Vorstellung eines harmonischen Neben und Mit
einanders traditionell verhafteter Gruppen versperrt jedoch den Blick für
die Spannungen und Konflikte, die die Modernisierung der (bäuerlichen)
Lebenswelt mit sich brachte.
1 Siehe auch Arnon Gill, Die Polnische Revolution 1846. Zwischen nationalem Befrei
ungskampf des Landadels und antifeudaler Bauernerhebung, Wien 1974.
2 Als »antisemitische Exzesse« beschrieben die österreichische Verwaltung und bald
auch die Presse die Ausschreitungen, bei denen 18 bis 22 »Exzendenten« vonseiten
der Behörden erschossen wurden. Siehe auch Daniel L. Unowsky, The Plunder.
The 1898 Anti
Jewish Riots in Habsburg Galicia, Stanford CA 2018; Marcin Soboń,
Polacy wobec Żydów w Galicji doby autonomicznej w latach 1868–1914, Krakau
2011; Tim Buchen, Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen
Juden in der Habsburgermonarchie um 1900, Berlin 2012.
3 Siehe auch Dietlind Hüchtker, Der »Mythos Galizien«. Versuch einer Historisie
rung, in: Michael G. Müller / Rolf Petri (Hg.), Die Nationalisierung von Grenzen.
Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen,
Marburg 2002, S. 81–107; Kerstin S. Jobst, Der Mythos des Miteinander. Galizien in
Literatur und Geschichte, Hamburg 1998.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918