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180 Tim Buchen
als Herkunftsland der Juden war ebenso bekannt, wie der Topos vom wan
dernden Juden und das Wissen, dass polnische Könige im Mittelalter Juden
aufgenommen hatten. All dies hielt die Vorstellung aufrecht, dass trotz einer
mehrere Jahrhunderte andauernden Präsenz Juden sich gleichsam vorläufig
unter den christlichen Bauern aufhielten. Wichtig war auch die Berufung auf
eine vermeintliche Autorisierung der Gewalt durch den Papst. Das Flugblatt
übersetzte das mündliche Gerücht damit in die Schriftlichkeit, auf die viele
Gewalttäter großen Wert legten und die auch den Papst zu einem Befürwor
ter jüdischer Auswanderung und Vertreibung erklärte.
Die Phantasien einer Sprengung mit Dynamit und die Beschreibungen von
regnenden Fröschen scheinen die neue technische Errungenschaft Alfred
Nobels mit den Visionen biblischer Apokalypse zu verbinden. William W.
Hagen hat vergleichbare Äußerungen in den Umbruchjahren 1918–1920
als Ausdruck der »magischen Weltsicht« polnischer Bauern genannt 50. In
den tödlichen Pogromen der Nachkriegszeit setzten viele den Wunsch um,
die imaginierte übernatürliche Macht der Juden und ihren Einfluss auf die
Bauern zu brechen. Ein solches Szenario spricht auch aus den in biblischen
Bildern zusammengefügten Gewaltphantasien des Flugblattes. Doch entge
gen der Ankündigung kamen 1898 Dreschflegel und Sensen während der
»antisemitischen Excesse« kaum zum Einsatz. Tödliche Verletzungen erlit
ten insgesamt 22 Menschen. Es waren allesamt Christen, die ähnlich wie
in Kalwarya durch Schusswaffen der habsburgischen Ordnungskräfte ums
Leben kamen. Es war diesmal keine entgrenzte Gewalt, kein Blutrausch wie
1846. Das Reden vom Morden und Brennen diente den Bauern dazu, Juden
zu Verängstigen und sich selbst als Herren über Leben und Tod aufzuschwin
gen, um Macht über die vertrauten Fremden zu erlangen. Im Vergleich
mit 1846 war der Staat personell durch das in Galizien stationierte Militär
wesentlich schlagkräftiger und logistisch durch den Telegraph und berittene
Einheiten erheblich schneller zur Intervention bereit. Im Unterschied zu
1918 war der Staat 1898 funktionsfähig und die integrierende Herrscherfigur
Franz Joseph nicht nur am Leben, sondern aufgrund des 50
jährigen Thron
jubiläums auf Bildern und in Reden omnipräsent.
ukrainische Nationalisten und nationaljüdische Politiker zunächst gemeinsam
antiimperiale Lösungen der sozialen Frage der verarmten Bevölkerung entwickelt.
Sympathien für die Emigration der Juden aus Galizien wurden somit schon früh in
der Parteizeitung Przyjaciel Ludu geäußert. Durch Boykott sollten sie letztlich zur
Auswanderung gezwungen werden, siehe auch Kai Struve, Galizische Verflechtun
gen – die »Judenfrage« in der Lemberger Zeitschrift Przegląd Społeczny 1886–87, in:
Manfred Hettling u.a. (Hg.), Die »Judenfrage« im europäischen Vergleich, Berlin
2013, S. 95–126.
50 Siehe auch William W. Hagen, Anti
Jewish Violence in Poland, 1914–1920,
Cambridge 2018.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918