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183Kollektive
Gewalt und die religiöse Politisierung von Bauern
übersetzten sie mit biblischer Sprache in den galizischen Alltag, nicht zuletzt
um das Selbstbewusstsein ihrer Leser, die »im Schweiße ihres Angesichts«
Gottes Erde bebauten, zu stärken. In dieser Logik war der durch Handel und
Dienstleistungen erlangte Besitz fragwürdig und der erwirtschaftete Mehr
wert eines Produkts letztlich ein Schwindel. In den Ausschreitungen vom
Sommer 1898 zeigte sich diese Einstellung sehr deutlich. Das Ausrauben
jüdischer Läden konnte so rationalisiert werden, dass man sich nur zurück
nehme, was man selbst produziert habe. Schließlich hatten nicht Juden den
Tabak und die Gerste angebaut und verarbeitet, die sie nun als Cigarren, Bier
und Wodka für teures Geld verkauften. Tatsächlich sprechen die Muster des
kollektiven Plünderns jüdischer Häuser, Schenken und Läden im eigenen
Dorf oder näheren Umfeld sowie der mehrfach dokumentierte Versuch, Ban
den von auswärts zuvor zu kommen, oder sie gar am Plündern zu hindern,
dafür, dass die »eigenen« Juden als eine rechtmäßige »eigene« Ressource
betrachtet wurden. So konnte das Zahlen der Zeche mit dem Einzahlen in
eine Bank verglichen werden, da der jüdische Eigentümer umsichtiger mit
Geld umgehe als der trinkfreudige, impulsive Bauer. Die Abrechnung mit
dem Juden bedeutete, das Geld zurück zu fordern.
Darüber hinaus berührte es die Ehre einer Dorfgemeinschaft, wenn
»fremde« Bauern die »eigenen« Juden ausraubten. Der im zitierten Flugblatt
erwähnten Blamage ließen sich zahllose weitere Situationen hinzufügen, in
denen Rädelsführer unentschlossenen Mitstreitern vor Augen führten, wie
das Ansehen des Dorfes leide, sollten Bauern von außerhalb bei Ihnen plün
dern55. Zugleich implizierte diese Suggestion, dass es jemand anders ohne
hin tun werde, die Juden also sowieso Opfer von Plünderungen und Demü
tigung sein würden. Die Motive und Motivationsstrategien zu Gewalt und
Raub waren jedoch vielschichtig. Es war nicht einfach, den üblichen zivilen
Umgang und die persönliche, oft jahrelange Bekanntschaft, so sehr diese
auch von Distanz und Spannungen geprägt sein mochte, zu überwinden und
Juden den eigenen Willen aufzuzwingen. Der Bericht aus Targanice zeigt
beispielhaft, wie Opfer mit ihren Peinigern kommunizierten und wie die
Erinnerung an eine gemeinsame menschliche Erfahrung, hier vom Schutz
bedürfnis des Neugeborenen und der jungen Mutter, die rituelle Bestrafung
mildern konnte. Auch nachdem die Bekanntgabe des Ausnahmezustands
und die massiven Militärintervention die Gewalt im Spätsommer eindämm
ten, waren die meisten Juden darum bemüht, genau diese ambivalente Nach
barschaft zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Zwar unterstützten sie mit
55 Dieses Argument findet sich bspw. zuhauf in dem ausführlich geschilderten Raubzug
in Lutcza; siehe auch Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. 195–209. In einigen
Fällen hinderten Dorfbewohner marodierende Banden daran, Juden zu überfallen,
um diese anschließend selbst zu plündern. Siehe auch AGAD Min. Spraw. 308/242.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918