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202 Katharina Stornig
Ausübung von Zwang, um ein Verbleiben von Kindern auf der Mission zu
erreichen, offenbar zu keinen missionsinternen Debatten. Vielmehr schien
man die religiös begründete Ansicht zu teilen, dass es im Sinne der Kinder
war, sie dem »heidnischen Einfluss« so weit als möglich zu entziehen56.
Religiöse Legitimationsmuster kinderbezogener Gewalt
Auch für Schwester Valeria Dietzen stand es aus religiösen Gründen außer
Frage, dass es zum Besten der Kinder war, wenn diese auch gegen ihren Wil-
len und gewaltsam erzwungen auf der Mission verblieben und dort zu einem
katholischen Leben angehalten wurden. Doch wie legitimierten Schwester
Valeria bzw. ihre Kolleginnen und Kollegen die Ausübung von Zwang und
Gewalt? Blicken wir nun im Detail auf die entsprechenden Aussagen, so las-
sen sich im Besonderen zwei Argumentationsstränge differenzieren, welche
freilich miteinander in Verbindung standen. Dies betrifft zum einen die
grundlegende Überzeugung von der erzieherischen Bedeutung körperlicher
Züchtigung, welche nicht nur als Mittel der Disziplinierung, sondern auch
als Ausdruck elterlicher oder erwachsener Fürsorge dargestellt wurde. Zum
anderen verweisen Schwester Valerias Aussagen auch auf den spezifischen
sozialen und kulturellen Kontext Tumleos sowie die Entwicklung rassisti-
scher Interpretationsmuster57. Beide Argumentationsstränge sollen im Fol-
genden nacheinander diskutiert werden.
»Die Kinder wachsen ohne Zucht und Ordnung auf«, behauptete Missio-
nar Mathias Erdweg in einem Aufsatz über die Einwohner und Einwohne-
rinnen Tumleos, der 1902 in den Mitteilungen der Wiener Anthropologischen
Gesellschaft erschienen war58. Ähnlich wie seine Kollegen in Kaiser Wil-
helmsland59, war Erdweg der Ansicht, dass die indigene Bevölkerung, welche
er (wie viele Europäer und Europäerinnen in dieser Zeit) auf »der unters-
ten Stufe der Cultur« verortete, »ihren Kindern keine eigentliche Erziehung
angedeihen« ließe60. Denn während die Eltern zwar durchaus Gehorsam von
ihren Kindern erwarten würden, bliebe diese Erwartungshaltung mangels
einer wirkungsvollen Bestrafung von Ungehorsam zumeist unerfüllt. Erd-
weg berichtete über eine gewisse Zurückhaltung der Eltern, ihre Kinder zu
56 Vgl. Steffen, Die Anfänge, S. 42.
57 Auf ein rassistisches Interpretationsmuster verweisen auch die Funde von Loosen,
die eine Missionsschwester zitiert, welche schrieb, dass man ohne Stock »wirklich in
die Kanakenköpfe nichts« hineinbekäme; Loosen, Deutsche Frauen, S. 502.
58 Erdweg, Die Bewohner der Insel Tumleo, S. 382.
59 Siehe Andreas Puff, Das papuanische Kind, in: Steyler Missionsbote 36 / 10 (1908 /
1909), S. 154.
60 Erdweg, Die Bewohner der Insel Tumleo, S. 382.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918