Page - 203 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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203Religion,
Kindheit und Gewalt im kolonialen Neuguinea um 1900
schlagen, was er wiederum als Schwäche und mangelnden Erziehungswil-
len kritisierte61. In der Tat finden sich in ethnologischen Studien zu Tumleo
bzw. zur benachbarten East Sepik Province Hinweise darauf, dass indigene
Formen der Erziehung – zumindest mancherorts62 – weitgehend gewaltlos
gestaltet wurden. Die Ethnologin Kathleen Barlow argumentiert in einer
Studie über die Murik an der Nordküste Neuguineas, dass Autorität primär
über die pflegende und großmütige Haltung von Älteren bzw. Müttern her-
gestellt wurde. Die Macht der Älteren oder Erwachsenen gründete demnach
nicht in möglichen Praktiken körperlicher Züchtigung, Zwang oder Forde-
rungen nach unmittelbarem Gehorsam, sondern in einer Überlegenheit, wel-
che aus ihrer Rolle als Gebende und Ernährende resultierte63. Erdweg ging
auf indigene Vorstellungen von elterlicher (oder erwachsener) Autorität und
Erziehung allerdings gar nicht ein. Vielmehr beanstandete er, dass gelegent-
lich vorkommende Strafen in Form von Verweisen oder Gewalthandlungen
(»Tracht Prügel«) nur geringen Nutzen zeigten, weil eben der »richtige« erzie-
herische Kontext fehle64. Kurz, in Erdwegs Augen schlugen die Eltern auf
Tumleo ihre Kinder erstens zu wenig und zweitens gewissermaßen »falsch«
(beziehungsweise mit den falschen Absichten oder Zielen). Folglich war es
in seinen Augen an den katholischen Missionaren und Missionsschwestern,
eine korrekte – weil dem Anspruch nach erzieherisch wirksame – Form der
körperlichen Züchtigung auf Tumleo beziehungsweise in Kaiser Wilhelms-
land einzuführen.
Erdwegs Text verweist auf die zentrale Bedeutung, die viele deutsche
Katholiken und Katholikinnen um 1900 der Praxis der körperlichen Züch-
tigung beimaßen, und welche durchaus auch religiös gefasst und begründet
wurde. Im religiösen Sinn verweist die Praxis der körperlichen Züchtigung
weniger auf eine spezifisch katholische als auf eine gesamtchristliche Tra-
dition. Wie zahlreiche Studien gezeigt haben, bezogen sich die Praxis und
Wertschätzung der körperlichen Bestrafung in der Geschichte des Christen-
61 Bezeichnenderweise interpretierte Erdweg nicht einmal die Feststellung, dass Kin-
desmisshandlung durch den Vater – selbst wenn dieser »erzürnt« war – nicht vor-
käme, als positiv; ebd., S. 281.
62 Erneut ist es angesichts der ethnischen und kulturellen Vielfalt in Neuguinea essen-
tiell, diesbezüglich keine Verallgemeinerungen vorzunehmen. So berichten andere
Studien auch von »überaus brutalen Methoden« der Disziplinierung; vgl. Hiery, Das
Deutsche Reich in der Südsee, S. 137.
63 Vgl. Kathleen Barlow, The Dynamics of Siblingship. Nurturance and Authority in
Murik Society, in: Nancy Lutkehaus (Hg.), Sepik Heritage. Tradition and Change
in Papua New Guinea, Brathurst 1990, S. 325–336, hier S. 325f. Für Tumleo enthält
das Buch des Geographen und Sprachforschers Leonhard Schulze einige interessante
Märchen, welche ebenfalls als Quelle für indigene Vorstellungen von Eltern-Kind-
Beziehungen untersucht werden könnten; siehe Leonhard Schulze, Zur Kenntnis
der Melanesischen Sprache von der Insel Tumleo, Jena 1911.
64 Siehe Erdweg, Die Bewohner der Insel Tumleo, S. 382.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918