Page - 205 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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205Religion,
Kindheit und Gewalt im kolonialen Neuguinea um 1900
thun, was ihm beliebt. Die Schwachheit der Eltern ist all dem sehr förder-
lich; denn sie bringen es kaum über das Herz, dem Sprösslinge eine Tracht
Prügel zu verabreichen«69. Die (Nicht-)Anwendung von körperlicher Züchti-
gung fungiert in der zitierten Passage als ein Merkmal der Differenzierung
zwischen vermeintlich »schwachen« indigenen Eltern und »starken« euro-
päisch-katholischen Erziehern und Erzieherinnen. Die bei Erdweg beobach-
tete Verbindung von Unverständnis für indigene Praktiken mit einer grund-
sätzlichen religiös und kulturell begründeten Haltung von Überheblichkeit
findet sich auch in den Texten anderer Missionare und Missionsschwestern,
welche dazu tendierten, christliche Ideale und Praktiken absolut zu setzen
und alle anderen Formen von Erziehung und Sozialisation abzulehnen.
Was Erdweg und andere als »Schwachheit« deuteten, entspricht dem erzie-
herischen Ideal, das Kathleen Barlow für Murik-Mütter herausgearbeitet hat:
Diese würden ihren Kindern zwar häufig Anweisungen geben, Forderungen
stellen, über ungezogene Kinder klagen und diesen auch mit allem Mögli-
chen drohen, aber nur sehr selten entsprechend dieser Drohungen handeln.
Murik-Mütter, so Barlow, erwarteten keinen »schnellen Gehorsam« ihrer
Kinder70. Anders verhielt es sich hingegen in der katholischen Mission auf
Tumleo, wo Schwester Valeria Dietzen auf die Vorwürfe ihrer Kolleginnen
ebenfalls mit Verweis auf das Prinzip des Gehorsams antwortete. So beteu-
erte sie in einem Brief an die Generaloberin: »Es kümmert mich wenig was
die andern sagen, ich halte mich an das, was meine Obern sagen« und legte
gewissermaßen als Beweis den bereits erwähnten Zettel des Präfekten bei71.
Dies bringt mich zum zweiten Argumentationsstrang, der sich in den katho-
lischen Legitimationsmustern von Gewalt festmachen lässt und der nicht nur
abstrakt mit dem sündhaften Charakter von Kindern insgesamt, sondern
ganz konkret mit der missionarischen Konstruktion der Kinder auf Tumleo
als sexualisierte und damit besonders sündhafte Wesen zu tun hatte.
Während die Missionare und Missionsschwestern Kinder einerseits als
grundsätzlich form- und erziehbare Ressource für den Aufbau der katho-
lischen Gesellschaft der Zukunft sahen, mussten sie andererseits feststellen,
dass religiöser und kultureller Wandel nicht erzwungen werden konnte.
Insbesondere Schwester Valerie Dietzen berichtete über Schwierigkeiten,
die Einhaltung der christlichen Sexualmoral und das Ideal der Missionssta-
tion als entsexualisierten Raum umzusetzen. Ihre Briefe legen nahe, dass sie
Gewalt insbesondere als Strafe für vermeintlich sexuelle Handlungen ein-
setzte. So berichtete Schwester Valeria z.B. über »ein Kind«, das leider die
69 Erdweg, Die Bewohner der Insel Tumleo, S. 281.
70 Vgl. Barlow, The Dynamics of Siblingship, S. 329.
71 Sr. Valeria Dietzen, 11. Dezember 1902, in: AG SSpS PNG 6201, Korrespondenz
1899–1910.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918