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208 Katharina Stornig
Europa Erwachsene wissen und was das Schlimmste ist[,] sie thun es auch.
Das Laster der Unzucht ist das größte Hindernis für die Mission«80.
Die zitierte Passage legt nahe, dass Schwester Valeria Dietzen und andere
in den ersten Jahren auf Tumleo ein Bild von der indigenen Bevölkerung
entwickelt hatten, welches diese als zutiefst sündhaft und dominiert durch
ihre ethnisierten und sexualisierten Körper definierte. Diese Zuschrei-
bung dominierte auch ihr Bild der Kinder und Jugendlichen, welche sich
eben nach Ankunft der ersten Missionare und Missionsschwestern nicht
so einfach kontrollieren und formen ließen, wie sie und andere es vielleicht
erwartet hatten. Der Verweis auf »Unzucht« legimitierte im religiösen Wer-
tesystem der katholischen Mission nicht nur Gewalt, sondern erforderte sie
in den Augen einiger Missionare und Missionsschwestern sogar. Schwes-
ter Valerias persönliches Dilemma ergab sich in der Tat vor allem dadurch,
dass sie sich und ihre Kollegen und Kolleginnen als verantwortlich für die
Seelen der ihr anvertrauten Kinder sah. Diese Verantwortung interpretierte
sie jedoch nicht vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Pädagogik oder
auch der von einigen Missionaren und Missionsschwestern wiederholt ange-
sprochenen Zurückhaltung indigener Eltern gegenüber der Anwendung von
Gewalt gegen Kinder. Stattdessen griff sie auf katholische Ideale und Prak-
tiken der körperlichen Züchtigung zurück, welche sie vermutlich nicht nur
aus ihrer eigenen Erziehung kannte, sondern welche auch ihr religiöser Vor-
gesetzter von ihr erwartete. Schwester Valeria Dietzen bekam am Ende der
Debatten über die Quantität und Qualität der Prügel in der Missionsschule
auf Tumleo kurz nach der Jahrhundertwende jedenfalls Recht. Während
Gewalt als Thema in den Korrespondenzen der folgenden Jahre weitge-
hend verschwand, machte Schwester Valeria »Karriere«81. Generalsuperior
Arnold Janssen ernannte sie nicht nur zur Vorsteherin des Frauenklosters
auf Tumleo, sondern auch zur Provinzialoberin und somit religiösen Vorge-
setzten aller »Dienerinnen des Heiligen Geistes« in Kaiser Wilhelmsland –
eine Funktion, welche sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1917 erfüllte. Dass der
Einsatz von körperlicher Züchtigung im Umfeld der Mission auf Tumleo
damit allerdings keinesfalls verschwunden war, macht z.B. die Erzählung
eines indigenen Arbeiters deutlich, welche der Ethnologe Richard Scaglion
unter der Frage nach der indigenen Deutung erster Kontakte mit Europäern
und Europäerinnen aufnahm und untersuchte. Darin berichtet ein Arbeiter
namens Nambil aus Neligum, wie er als frisch angeworbener Arbeiter auf
80 Sr. Valeria Dietzen, 10. November 1901, in: AG SSpS PNG 6201, Korrespondenz
1899–1910.
81 Vgl. Katharina Stornig, Sacrifice, Heroism, Professionalization, and Empower-
ment: Colonial New Guinea in the Lives of German Religious Women, 1899–1919, in:
Berghoff u.a. (Hg.), Explorations and Entanglements, S. 237–254, hier S. 244f.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918