Page - 217 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
Image of the Page - 217 -
Text of the Page - 217 -
Sean Farrell
Der Bahnfrevel von Trillick
Gräuelpolitik in Ulster nach der großen Hungersnot
Am 15.
September 1854 entgleiste ein Zug, in dem schätzungsweise 800 Män-
ner und Frauen unterwegs waren, kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof von
Trillick, einem kleinen Dorf im Nordwesten Irlands. Die Havarie geschah am
frühen Abend, als der »Monsterzug« sich auf der Rückfahrt von einer pro-
testantischen Feier in der Stadt Derry befand. Als der Zug in den ersten der
drei gewaltigen Steine fuhr, die auf das Gleis gelegt worden waren, rutschten
zwei Lokomotiven und ein Waggon den Bahndamm hinunter, der sich gut
zehn Meter über der umliegenden Landschaft erhob. Bei dem Sturz kamen
zwei Heizer ums Leben: John Mitchell, der zwischen den Lokomotiven ein-
gequetscht wurde, und Michael Griffin, der später starb, nachdem man ihm
ein Bein amputieren musste. Doch die Havarie war kein Unfall: Laut einem
Bericht des parlamentarischen »Board of Trade« wurde der Zug mit Absicht
vom Gleis gebracht indem drei große Mauerkronen auf diesen erst kürzlich
eröffneten Abschnitt der »Londonderry and Enniskillen Railway« platziert
worden waren1. Allein die Tatsache, dass die Kette, die den ersten mit dem
zweiten Waggon verband, beim Aufprall riss, verhinderte eine noch größere
Katastrophe.
Das Unglück glich dem Drehbuch eines viktorianischen Melodrams. Tat-
sächlich erfuhr der Bahnfrevel von Trillick große Aufmerksamkeit in der
britischen und irischen Presse. Dass sich noch Monate später in den Zei-
tungen Berichte über den Vorfall und sein juristisches Nachspiel fanden,
hatte auch damit zu tun, dass in dieser Geschichte das Fortschrittsdenken
des 19.
Jahrhunderts auf die scheinbar uralten Glaubensstreitigkeiten Irlands
traf. Die meisten Kommentatoren gingen denn auch sofort davon aus, dass es
sich bei dem Unglück um einen konfessionell motivierten Anschlag handeln
musste, etwa in Form eines versuchten Attentats auf William Willoughby
Cole, den dritten Earl of Enniskillen, einem der mächtigsten Grundbesitzer
und Politiker der Region, und außerdem Großmeister des umstrittenen Ora-
nierordens. Der Graf hatte den Ausflug nach Derry organisiert und befand
1 Douglas Galton, Report on the Enniskillen and Londonderry Railway, in: Board of
Trade, 10. Oktober 1854, S. 14–16.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918