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220 Sean Farrell
durch die erkennbaren Muster in Form und Ablauf der ritualisierten konfes-
sionellen Ausschreitungen, hinter denen oftmals komplexe lokale Ursachen
zurücktraten6.
Im 19. Jahrhundert stand der britische Staat zum Oranierorden in einem
durchaus ambivalenten Verhältnis, das zwischen Verlegenheit angesichts
seiner Tumulte provozierenden Demonstrationen und Dankbarkeit für die
unverbrüchliche Treue in schweren politischen Zeiten schwankte. Regelmä-
ßig verbot die Whig-Regierung Aufmärsche; 1836 zwang sie den Oranier-
orden gar zur Selbstauflösung. Wie so viele gutgemeinte britische Maßnah-
men im Irland des 19.
Jahrhunderts verfehlte auch diese ihre Wirkung. Bereits
1846 traten die Oranier wieder öffentlich auf, was deren Anführer unter Ver-
weis auf bäuerliche Unruhen und das Anwachsen nationalistischer Agitation
rechtfertigten. Zwar waren die Whig-Beamten im Dublin Castle dankbar
für die Unterstützung, die der Orden ihnen im Revolutionsjahr 1848 entge-
genbrachte, doch blieben die Kundgebungen außerhalb der eigenen Reihen
unbeliebt und umstritten. In einer Auseinandersetzung am Rande eines Ora-
niermarsches in Dolly’ s Bray, im Süden der Grafschaft Down, kamen min-
destens zehn Menschen um, woraufhin die britische Regierung den »Party
Processions Act« verabschiedete. Dieses Gesetz verbot Umzüge, bei denen
Schusswaffen getragen oder festliche Musik gespielt wurde, ebenso wie Flag-
gen und Banner, die angetan waren, »zur Feindseligkeit zwischen unter-
schiedlichen Ständen ihrer Majestät Untertanen anzustacheln«7. Es wurden
jedoch keinerlei systematische Versuche unternommen, führende Oranier
von Regierungsämtern auszuschließen, und die staatlicherseits begrenzten
und ungleichen Bemühungen, Demonstrationen einzuschränken, erzeugten
Ressentiments, die sich in zahlreichen Kommentaren zur Entgleisung und
zum versuchten Attentat bei Trillick niederschlugen.
Der Bahnfrevel von Trillick war kein sonderlich bedeutendes Ereignis.
Mit der wichtigen Ausnahme der Familien der Opfer und der Verdächtigen
haben wir es hier mit der Geschichte einer knapp vermiedenen Tragödie
zu tun, einem Fall von »was wäre, wenn …?«. Im Folgenden soll es weniger
darum gehen, was bei Trillick tatsächlich vorgefallen ist, als um die Narra-
tive, mittels derer die zivilgesellschaftlichen, politischen und religiösen Füh-
rungsfiguren in Irland ihre Rivalen ins Unrecht versetzen und ihre eigenen
6 Vgl. Sean Farrell, Rituals and Riots. Sectarian Violence and Political Culture
in Ulster, 1784–1886, Lexington KY 2000; Richard McMahon, Homicide in Pre-
Famine and Famine Ireland, Liverpool 2013, S. 126–157.
7 Bill to Restrain Party Processions in Ireland, House of Commons [im Folgenden HC]
1850, (519), v. Eine Untersuchung dieses Zwischenfalls und seiner geradezu mythi-
schen Nachwirkungen findet sich in Sean Farrell, Writing an Orange Dolly’ s Brae,
in: Danine Farquharson / Sean Farrell (Hg.), Shadows of the Gunmen. Violence,
History, and Art in Modern Ireland, Cork 2007, S. 90–106.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918