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243Missionare
als Opfer muslimischer Gewalt?
scheidend gewesen, aber sie ließen die Wende zur formalen Kolonisierung
als Ergebnis eines breiten politischen Konsenses und des Willens der Bevöl-
kerung erscheinen. Die Partei unter der Führung Ludwig Windthorsts ließ
sich mit dem Argument des Antisklaverei-Kampfes von der Besetzung Ost-
afrikas durch eine deutsche Kolonialtruppe überzeugen. Damit erwies sich
die semantische Formel der christlichen Zivilisierungsmission – nicht etwa
des sozialdarwinistischen »Kampfs ums Dasein«, wirtschaftspolitischer
Interessen oder Weltmachtstreben – in der entscheidenden Phase, in der der
deutsche Kolonialismus formalisiert und institutionalisiert wurde, als die
begriffliche Plattform, die Reichsregierung, Konservativen, Teilen der Natio-
nalliberalen und Zentrum eine Zusammenarbeit ermöglichte7. Eine bestim-
mende Rolle wenigstens für den deutschen Fall spielte die diskursive und
mediale Rahmung des deutsch-ostafrikanischen Kolonialkriegs als religiös-
motivierter Gewaltakt, der vermeintlich von muslimischen Sklavenhänd-
lern gegen christliche Missionare als Vertreter einer europäisch-christlichen
Zivilisierung ausgeführt wurde. Die deutsche Eroberung von Teilen Ostaf-
rikas war entsprechend religiös konnotiert, nämlich als Verteidigung einer
christlichen humanitären Mission.
Alf Lüdtke formulierte 2002 in einem kurzen Vortrag sehr nachdrücklich
eine Einsicht:
Jede Gewalt, die erlitten wird, ist von einem oder mehreren anderen gemacht worden.
Es gibt immer den oder die, der oder die es »tun«. Hier herrscht kein Automatismus,
auch nicht bei den angeblichen Routinen. Jede Bewegung muss gemacht werden. Nie
heben sich Arm und Hand »von selbst« zum Schlag8!
Gewalt als soziale Praxis und Teil der Aushandlung von Herrschaft liegt auch
den Ereignissen zu Grunde, die ich in diesem Beitrag schildere. Allerdings
schlage ich eine Erweiterung des Blicks vor, um die Dynamiken von Gewalt
in kolonialen Situationen zu verstehen: Damit Gewaltereignisse und -erfah-
rungen zwischen Kolonie und Metropole zirkulieren konnten, bedurfte es
kommunikativer Arbeit. Ereignisse mussten auf spezifische Weise medial
gerahmt werden, um in den Metropolen anschlussfähig zu sein und um
erneute – oft wieder äußerst gewalttätige – Handlungen zu motivieren. Ich
frage im Folgenden also danach, welche kommunikative und narrative Arbeit
insbesondere die katholische Mission verrichtete, um die Gewaltereignissen
7 Windthorst sah sich von der katholischen Antisklaverei-Bewegung zu einer Wende
in der Kolonialpolitik getrieben; Ludwig Windthorst, Brief an Reuß am 17.
Dezem-
ber 1888, in: Ders., Briefe 1881–1891, bearb. v. Hans-Georg Aschoff / Heinz-Jörg
Heinrich, Paderborn 2002, S. 705–707.
8 Vgl. Alf Lüdtke, Gewalt und Alltag im 20. Jahrhundert, [ohne Ort] 2002, URL:
<https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00000828> (17.12.2018).
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918